Ich habe zwar schon viel gegen Psychoanalyse polemisiert, doch obwohl ich Freuds ursprüngliche Theorie für Schamanismus halte, haben einige seiner Nachfolger beizeiten etwas Aufschlussreiches vorzubringen. Darunter die Beurteilung der westlichen Kultur als „Schuld-Kultur“ und jene der islamischen als „Scham-Kultur“.
Das Thema ist so interessant, dass ich ihm eine kleine Reihe widmen werde, die sich wohltuend von meiner typischen Schwarz-Weiß-Malerei abheben wird, nur um am Ende das zu legitimieren, was ich sowieso schon denke.
Scham
Scham ist nicht per se ein Problem. In begrenzten Quantitäten und geringen Dosierungen hat Scham zivilisiertes Verhalten erleichtert und sie hat sowohl Individuen als auch Kulturen dazu gebracht, sich angemessener zu verhalten. Ein gesundes Maß an Scham sorgt für den nötigen Realitätsbezug und erinnert uns an unsere Grenzen und Fehler. Es fühlt sich zunächst nicht gut an, auf die eigenen Schwächen aufmerksam gemacht zu werden, aber diese Einsicht ist wichtig, um sich gegebenenfalls zu bessern und um anzuerkennen, dass man auch nur ein Mensch ist. So lange ein Individuum zu Selbstzweifeln und Selbstreflektion fähig ist, kann Scham ihm dabei helfen, ein besseres Verständnis von sich selbst und anderen zu erreichen.
Das schreibt jedenfalls die Psychiaterin „Dr. Sanity“, die einen Blog betreibt, der zu meinen neuen Favoriten gehört. Sie schreibt ferner, dass unangemessene und exzessive Scham dem Individuum die Botschaft vermittelt, es sei wertlos. Scham kann eine vernichtende Wirkung haben. Kinder, die ständiger Feindschaftlichkeit und Kritik ausgesetzt sind, lernen, sich gegen die schlechten Gefühle und den inneren Scham zu verteidigen, indem sie ihn auf andere übertragen. Projektion und Paranoia sind beide externe Schamzuweisungen und psychologische Verteidigungsstrategien gegen Scham.
Diese exzessive Scham kann verarbeitet werden, indem man andere, die man als schwächer oder wertloser wahrnimmt, erniedrigt (z.B. das Haustier, Frauen, Schwule oder Außenseiter-Gruppen haben diese Funktion sowohl für Individuen, wie für Kulturen).
Schuld
Schuld ist dagegen eine Emotion, welche durch die Überschreitung der eigenen Werte oder der Werte der eigenen Kultur entsteht. Schuld bezieht sich auf Handlungen oder Verhalten, während sich Scham auf das Selbst bezieht. Es gibt einen bedeutenden psychologischen Unterschied, ob man sagt, dass ein Verhalten schlecht ist, oder ob man sagt, dass man selbst schlecht ist. Ersteres führt zu Schuld, letzteres zu Scham.
Der Zweck von Schuld besteht darin, ein Verhalten einzustellen, welches das Selbst (= die eigene Person), die familiäre oder die gesellschaftliche Norm schädigt. Schuld macht aufmerksam auf Verhaltensdefizite oder Exzesse, die als unerwünscht angesehen werden, und sie wird ausgedrückt in Bedauern und Reue.
Irgendwann nimmt eine Scham-vermeidende Person die Realität verzerrt wahr, um sich vor geringem Selbstvertrauen zu bewahren. Andere Individuen oder Gruppen für das eigene Verhalten verantwortlich zu machen wird zur zweiten Natur und dieser Verantwortungstransfer auf jemand anderen ist ein Ausdruck von innerer Scham.
Die meisten psychologischen Theoretiker (Erikson, Freud, Kohut) sehen Scham als eine primitivere Emotion an (da sie sich auf die eigene Selbstwahrnehmung bezieht) als Schuld, die sich später bei der Selbstentwicklung formt. Ohne die Entwicklung von Schuld gibt es keine Entwicklung von einem wahren sozialen Gewissen.
Schamkulturen vs. Schuldkulturen
In Chrysantheme und Schwert: Formen der japanischen Kultur, einem kulturanthropologischen Klassiker, analysiert Ruth Benedict die kollektivistische Kultur Japans während des zweiten Weltkriegs und unterscheidet sie von der amerikanischen Kultur. Japan hatte eine „Schamkultur“, während die USA und der größte Teil des Westens eine „Schuldkultur“ hatte. Jede Kultur hat ihr eigenes Regelpaket in Hinblick auf falsches Verhalten und jede wird bestimmt durch die Überzeugungen des Individuums und anderen Menschen in Hinblick auf Schuld, was in der folgenden Grafik aufgezeigt wird:
In beiden Kulturen ist es kein Problem, wenn beide Parteien glauben, das Individuum wäre nicht schuldig. Wenn beide Parteien glauben, das Individuum wäre schuldig, besteht ebenfalls Einigkeit und in diesem Fall wird die Schuld durch eine Strafe beglichen.
Der Unterschied besteht in den beiden übrigen Fällen, die in der Grafik rot und blau markiert sind.
Wenn ein Individuum in einer Schuldkultur glaubt, dass es nicht schuldig ist, dann wird es seine Unschuld aggressiv verteidigen, auch wenn andere glauben, dass es schuldig ist. In diesem Fall ist das individuelle Selbst stark und in der Lage, eine unabhängige Beurteilung vorzunehmen, selbst wenn jede andere Person von dessen Schuld überzeugt ist. Das Selbst kann für sich alleine stehen und für die Wahrheit kämpfen, sicher in dem Wissen, dass das Individuum unschuldig ist.
Die Schuldkultur ist typischerweise und primär mit Wahrheit, Gerechtigkeit und der Erhaltung von individuellen Rechten befasst. Wie zuvor angemerkt, ist das Schuldgefühl das, was eine Person von einem Verhalten abhält, die gegen seinen oder ihren eigenen Verhaltenskodext oder den der Kultur verstößt. Exzessive Schuld kann natürlich pathologisch sein. Ich beziehe mich lediglich auf eine psychologisch gesunde Anerkennung von Schuld.
Im Gegensatz dazu hat die Meinung von anderen Leuten in einer typischen Schamkultur (wie Japan zur Zeit des zweiten Weltkriegs, oder wie die arabische / islamische Kultur) einen viel stärkeren Einfluss auf das Verhalten, als das, was das Individuum glaubt. Das Verlangen, die Ehre zu bewahren und Scham zu vermeiden, ist bis zum Ausschluss aller anderen Faktoren eine der Hauptfunktionen dieser Kultur. Ein Nebeneffekt besteht darin, dass das Individuum schalten und walten kann, wie es will, so lange niemand darüber erfährt, oder weiß, dass es daran beteiligt ist.
Außerdem könnte es für ein Individuum unmöglich sein, sich selbst überhaupt einzugestehen, dass es schuldig ist (selbst wenn es das ist), insbesondere, wenn alle anderen die Person wegen der involvierten Scham für schuldig halten. Solange andere überzeugt sind, dass die Person unschuldig ist, empfindet das Individuum weder Schuld noch Scham. Große Anstrengungen werden darum aufgewandt, um andere von der eigenen Unschuld zu überzeugen (selbst, wenn man schuldig ist).
Die Schamkultur funktioniert am besten in einer kollektivistischen Gesellschaft, obwohl sie im Kleinformat auch in überwiegenden Schuldkulturen existieren kann.
Die These das nur Individuen die in einer Schamkultur leben mitunter nicht fähig sind die eigene Schuld einzusehen, selbst wenn sie schuldig sind halte ich für Falsch. Dieses Phänomen tritt auch in unserer Schuldkultur dauernd auf und zielt auf die Vermeidung von Strafe hin.
Ebenso sehe ich auch keinen nennenswerten Unterschied beider Kulturen bezüglich des unteren linken Quadranten. Auch in unserer Kultur kann der aus der Schamkultur genannte Effekt auftreten und tut es auch. Beispiel jemand wird zu unrecht des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen (öffentlich) beschuldigt. Der Beschuldigte kann zwar seine Unschuld beteuern, selbst wenn diese Nachgewiesen wird bleibt ihm immer etwas anhaften.
Ich sehe zwischen den beiden Kulturen bestenfalls im Idealfall Unterschiede.
naja, in Spezialfällen kann ja auch in einer Schuldkultur Schamkulturelles Verhalten auftreten? Zumal die Schuldkultur noch gar nicht sooooo alt ist (schätze mal, die hat sich erst nach Entkollektivierung und bürgerlicher Gesellschaft entwickelt?)
Jedenfalls hat man im Organisierten Verbrechen zB immernoch Schamkultur, auch im Westen.
Was ist denn an der Psychoanalyse nach Freud deiner Meinung nach so schamanismushaft?
Er war zum Großteil ein Pseudowissenschaftler, auch wenn er selbst an die Wahrheit von seiner Theorie glaubte. Das ist eines dieser Themen, bei denen ich mir mit meiner groben Verurteilung Ärger eingehandelt habe, aber meine Verurteilung basiert auf hinreichend gründlicher Recherche. Ich würde von allen freudkritischen Büchern vor allem dieses empfehlen, es ist auch, was andere Themen angeht, sehr aufschlussreich:
http://www.richardwebster.net/freudwrong.html
Das Problem ist, dass ich nicht tun kann, was ich tun müsste, nämlich die 500 Seiten hier als hinreichende Argumentation reinkopieren. So kann man es entweder glauben oder nicht, entweder selbst das Buch lesen oder nicht.
Danke für den Buchtip.
Ist das mit der schwarz-weiß Malerei jetzt ernst gemeint oder doch nicht? Irgendwo blick ich jetzt auch nicht mehr durch.
Interessant und aufschlussreich ist es aber auf jeden Fall, einmal darüber nachzudenken, welche Normen man anerkennt, weil man sie selbst für begründet und richtig hält und welche nur, weil es von der Gesellschaft (und manchmal auch einem Gott?) gefordert wird. Soweit der Unterschied zwischen „Schuld-“ und „Schamkultur“, wenn ich das richtig verstanden habe? Insofern freue ich mich mal auf die weiteren Teile.
Es geht wohl nicht um Scham, sondern um Besitz. Die Frau gehört dem Mann, dem Clan, und das umfasst jeden Zentimeter Haut.
Hierzu auch nicht uninteressant:
„Vorstellung von Ehre, Scham und Sexualität in Gemeinschaften aus dem Mittleren
Osten – Therapeutische Ansätze bei sexualisierter Gewalt, Familienkonflikten und
Umgang mit Normen aus dem Herkunftsland“ von J. Kizilhan
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