Der Philosoph Leonard Peikoff bietet in seinem neuen Buch The DIM Hypothesis – ein Must Read für Intellektuelle jeder Art – etwas, das postmoderne Denker spöttisch eine „große Erzählung“ nennen, also eine systematische Interpretation der westlichen Kultur. Inklusive Geschichte, Physik, Bildung und Kunst. Grundlage ist die objektivistische Philosophie und insbesondere die zugehörige Epistemologie (Erkenntnistheorie).
Peikoff teilt die Kultur jeweils in eine von drei Kategorien ein: Integriert (I), Fehlintergriert (M für „Misintegration“) und Desintegriert (D). Daher „DIM“. Integriert sind „Viele im Ganzen“, also systematische Philosophien. Fehlintegriert sind „Ganze unter Vielen“, allerlei gemischte Ansichten und desintegriert sind „Viele ohne Ganzes“. Unsere zeitgenössische Variante der liberalen Demokratie ist – im Gegensatz zu Kapitalismus und Sozialismus – eine fehlintegrierte Auffassung, ein Beispiel für mehrere „Ganze in Vielen“. Um ein mögliches Missverständnis gleich aufzulösen: „Integriert“ ist nicht notwendigerweise gut.
Das bedeutet konkreter, dass die fehlintegrierten Gemischtwarendenker nur bis zu einer bestimmten Ebene Konzepte bilden. Sie glauben nicht an „große Erzählungen“, an systematische Philosophien, welche die ganze Welt in ihren Grundlagen erklären. Die Positivisten sind ihre wissenschaftstheoretische Variante. Sie glauben, man könne nur Dinge wissenschaftlich erklären, die sich auf etwas beziehen, das man direkt wahrnehmen kann. Bis zu einer gewissen, variierenden Ebene sind Theorien demnach akzeptabel. Wenn es zu abstrakt wird, ist es für sie keine Wissenschaft mehr. Zum Beispiel Moral und Religion schließen sie aus der wissenschaftlichen Methodik aus.
Die Deutschen sind größtenteils fehlintegriert. Sie glauben nicht an Prinzipien, an allgemeingültige Wahrheiten, an eine universelle menschliche Natur. Weder an zweifelhafte Varianten von „I“ wie Religionen und kollektivistische Ideologien, noch an rationale Varianten wie Kapitalismus und Objektivismus. Sie sind überwiegend aber auch keine Nihilisten, keine Desintegrierer, keine „Allzerstörer“ (Moses Mendelsohn über Immanuel Kant), sondern Pragmatiker.
Karl Poppers Konzept einer „offenen Gesellschaft“ ist die konsequente Ausführung systematischer und dogmatischer Orientierungslosigkeit. Popper richtet sich gegen die Feinde der offenen Gesellschaft wie Nazis und Kommunisten, sowie gegen esoterische und religiöse Ideologien. Das tun Objektivisten ebenso. Der Unterschied ist, dass Popper eine offene Gesellschaft für eine sich evolutionär im offenen Austausch weiterentwickelnde Gesellschaft ansieht. Eine „offene“ Gesellschaft ist also nicht dasselbe wie eine „freie“ Gesellschaft. Er ist Pluralist, der nur „Ganze unter Vielen“ anerkennt, aber keine „Viele im Ganzen“. Dabei liegen zunächst einmal alle Karten auf dem Tisch, „anything goes“. Dann reden wir über konkrete Einzelprobleme, ohne irgendeinen großen Plan, und einigen uns ohne grundlegende Prinzipien auf eine pragmatisch sinnvolle Lösung. Das Gesellschaftsverständnis der Giordano Bruno Stiftung ist nach meiner Einschätzung mit diesem Verständnis weitgehend identisch. Und steht somit im Gegensatz zu dem der integrierenden Aufklärer, ob nun der aristotelischen oder der kant’schen Variante (auch Kant war ein Integrierer, einer der drei bedeutendsten Philosophen neben Plato und Aristoteles).
Die Anhänger des Pluralismus bezeichnen sich als „undogmatisch“, „tolerant“ und „antiideologisch“. Sie glauben an „Kompromisse“ und „pragmatische Lösungen“. Die Wissenschaft spielt dabei durchaus eine Rolle, aber nur die limitierte Rolle für konkrete Einzelfälle, die sie für die Fehlintegrierer spielen darf. Man darf beispielsweise niemals sagen, dass sich auch moralische und weltanschauliche Fragen mit Hilfe einer rationalen Epistemologie lösen lassen, die der wissenschaftlichen Herangehensweise entspricht. Man darf keine grundlegenden Prinzipien und Tugenden vertreten, sonst gilt man als „Fundamentalist“, „dogmatisch“, „intolerant“ – egal, wie diese Prinzipien und Tugenden begründet werden, ob durch blinden Glauben oder systematische Logik und Empirie.
Ihre hochtrabende Rhetorik und ihre Selbstinszenierung als Vernunftmenschen sind bewusste und unbewusste Strategien, damit niemand – inklusive der Pluralisten selbst – bemerkt, dass sie eigentlich gar nicht wissen, was sie wollen. Sie wissen nicht, worum es ihnen letztlich geht, welche Ziele sie letzten Endes anstreben. Sie kennen nur vage, isolierte moralische Ansätze, die unsystematisch im Raum stehen. Beispielsweise glauben sie in der Regel, dass der Staat das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Bürger schützen soll und so ein bisschen auch das Eigentum. Aber manchmal auch nicht. Die Wehrpflicht ist für die pluralistisch denkenden Deutschen lange Zeit akzeptabel gewesen – obwohl mit ihr der Staat über unser Leben verfügt -, unsere Organe sollen wir ohne Gegenleistung verspenden, was bedeutet, dass sie uns nicht gehören. Aber diese Schlussfolgerung wäre zu weitgehend, zu „extrem“ für die Pluralisten.
Einerseits sollen wir nur für das bezahlen müssen, was wir auch nutzen. Der Staat soll nicht an jeden Bedürftigen ein iPad verschenken. Andererseits soll er jedem Bürger öffentlich-rechtliches Fernsehen bezahlen. Den Eintritt zu Freizeitparks bezahlen wir selbst, Stadtparks übernimmt der Staat. Warum? Weil wir uns demokratisch in unserer offenen, evolutionären Gesellschaft darauf geeinigt haben. Auf welcher Grundlage? Weil die Mehrheit das will. Warum ist das relevant und wie weit darf die Mehrheit in unsere Rechte eingreifen? Keine Ahnung. Mal sehen, was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt.
Pluralisten sind Menschen, die sich niemals grundlegende, systematische Gedanken über die Welt gemacht haben. Da sie nicht wissen, was sie wollen, da sie keine Grundlage für ihre Entscheidungen haben, delegieren sie ihren freien Willen auf die Mehrheit. Bestenfalls lassen sie in konkreten Einzelfällen die Wissenschaft sprechen, aber nur in Einzelfällen, nie mit systematischer Gesamtbetrachtung.
Objektivisten sind keine Pluralisten, sondern systematische Verteidiger der freien Gesellschaft. Von den drei großen „I“-Traditionen stehen sie in aristotelischer Tradition: Systematische Integration von Sinnesdaten zu immer abstrakteren Konzepten. Induktion und Deduktion statt bloße Falsifizierbarkeit. Ein logisches Gesamtsystem statt willkürliche, unverbundene Einzelmeinungen und Einzelbeobachtungen. Objektivisten sind die Integrierer der Aufklärung.
Auf politischer Ebene gilt statt „anything goes“, statt der Meinung, dass die Mehrheit und der Staat rein willkürlich begrenzte Macht und beliebig bestimmte Aufgaben haben: Die Menschenrechte Leben, Freiheit, Eigentum sind absolut. Weder Staat noch Mehrheit darf in diese eingreifen. Dies ist die notwendige Grundvoraussetzung einer wirklich freien Gesellschaft. Karl Popper selbst hat es in seinen späteren Lebensjahren zunehmend eingesehen. Er wandte sich dem Liberalismus und dem Kapitalismus zu.
Literatur
Man muss den kritischen Rationalismus aus dem Zeitkontext verstehen. Das Werk von Popper richtet sich gegen Ideologien die behaupten über absolut sicheres Wissen zu verfügen. Von daher wollte Popper nachweisen dass man eine objektive Theorie der Erkenntnis mit einer kritischen, vorläufigen Einstellung zum vorhandenen Wissen vereinen kann.
Desingetriert ?
Hat da einer den Ingetrationstest nicht bestanden.
Kommt davon, wenn man spontan philosophische Essays schreibt. Danke, wird korrigiert.