Der säkulare Humanismus in den Vereinigten Staaten befindet sich auf dem Weg der Selbstzerstörung. Die Neuen Atheisten – Richard Dawkins, Sam Harris, Christopher Hitchens, Daniel Dennett – werden nicht länger als die Ikonen der säkularen Bewegung akzeptiert oder sind, wie im Falle Hitchens, verstorben. Die drei Intellektuellen hatten sich nicht nur durch ihren öffentlich propagierten Atheismus hervorgetan, sondern sie waren oder sind auch unabhängige Denker.
Den Neuen Atheisten ist es statistisch gesehen kaum gelungen, Gläubige vom Atheismus zu überzeugen. Zwar bezeichnen sich etwas mehr Amerikaner als Atheisten, aber die meisten Konfessionsfreien sind weiterhin religiös und die Zuwächse der fundamentalistischen Christen sind ungleich größer. Heute wird die Bewegung von einer neuen abgelöst, deren Akzeptanzwerte unterirdisch ausfallen, die aber trotzdem dafür sorgte, dass das öffentliche Interesse am Atheismus abnahm: Der „Atheism +“. Was es damit auf sich hat und warum die Neuen Atheisten nur wenige Gläubige überzeugen konnten, darum geht es im folgenden, ausführlichen Artikel.
Was ist Atheism +?

Mit dem progressiven „Atheism +“ – siehe offizielle Website -, der Minderheiten umwirbt und für die Gleichstellung von Frauen eintritt, hat die Bewegung für eine Trennung von Kirche und Staat und für rationales Denken einen Tiefstand erreicht, was das öffentliche Interesse anbelangt (siehe Thunderf00ts Statistiken hier und hier). Führende Vertreter des „Atheism+“, P.Z. Myers und Richard Carrier („seid ihr mit uns oder mit ihnen„), gehörten von Anfang an zu den „Neuen Atheisten“. Auch Rebecca Watson und ihre Feministen begleiteten die Neuen Atheisten beinahe so lange, seit sie Sam Harris mit dem „Ende des Glaubens“ 2004 ins Leben rief.
Das Konzept „Atheism +“ als solches wurde am 18. August 2012 von Jen McCreight ins Leben gerufen. McCreight war die Urheberin der „Boobquake“-Aktion (siehe SPIEGEL Online). Ein iranischer Geistlicher hatte behauptet, dass Erdbeben auf unzüchtig gekleidete Frauen zurückzuführen seien. McCreight rief darum Frauen auf, sich mit ihren unbedeckten Brüste zu fotografieren und das Foto online zu stellen. In ihrem Blogeintrag Wie ich unwissentlich den Jungenclub infiltrierte & Warum es an der Zeit ist für eine neue Welle des Atheismus, mit dem sie „Atheism +“ gründete, beschwerte sich McCreight über die Reaktionen auf die Boobquake-Aktion seitens männlicher Atheisten:
Was ich mir ursprünglich als ermächtigende Aktion für die Unterstützung der Freiheiten der Frau vorstellte und als Entblößung von gefährlichem abergläubischen Denken degenerierte zu „Zeig uns deine Titten!“. Ich erhielt sexuelle Einladungen von Fremden aus dem ganzen Land. Wenn ich bei atheistischen Konferenzen sprach, gab es stets eine Flut von Kommentaren über meine Brust und mein Aussehen.
Zusammengefasst: Jen McCreight rief Frauen weltweit dazu auf, Aktfotografie von sich selbst anzufertigen und sie online zu verbreiten. McCreight ging mit gutem Beispiel voran. Als Reaktion erhielt sie eine Reihe von Macho-Kommentaren. Darum fühlte sie sich motiviert, den Neuen Atheismus durch eine neue Bewegung zu ersetzen, der es um folgendes gehen soll:
Es ist Zeit für eine Welle [des Atheismus], die sich damit befasst, wie uns Religion alle betrifft und die Skeptizismus auf alles anwendet, inklusive gesellschaftlichen Themen wie Sexismus, Rassismus, Politik, Armut und Verbrechen.
Mit Atheismus als Nicht-Glauben an Gott hat Atheism + nicht mehr viel zu tun. Der Neue Atheismus stand allerdings immer auch für rationales Denken. Darum kritisierten seine Vertreter auch esoterische Vorstellungen. Atheism + geht es hingegen vornehmlich darum, eine bestimmte politische Ideologie zu popularisieren und die atheistisch-skeptische Bewegung unter ihrem Banner zu vereinen: Der Egalitarismus. Diese Ideologie, unter ihren Gegnern bekannt als „Gleichmacherei“, wird von Sozialdemokraten bis hin zu Linksradikalen unterschiedlich konsequent vertreten.
Egalitarismus: Die Zukunft der säkularen Bewegung?
Die Bloggerin Greta Christina, einflussreich unter feministischen Atheisten, stellt aus der Ideologie abgeleitete Forderungen an atheistische Organisationen. Diese sollen sich folgende Fragen stellen:
– Wie sieht es aus mit der Diversität von euren Mitarbeitern?
„Diversität“ im Sinne des Egalitarismus bedeutet nicht „Vielfalt“ im Sinne der Vielfalt inhaltlicher Positionen oder der Varianten des Engagements. Die Mitarbeiter von säkularen Organisationen sollen vielmehr aus verschiedenen Kulturen kommen, aus verschiedenen Rassen („Ethnien“) und möglichst zur Hälfte aus Männern und Frauen bestehen. Die Qualifikation als Kriterium für einen Mitarbeiter erwähnt Greta Christina nicht einmal.
Da ich verschiedene säkulare Organisationen kenne und für sie tätig war, weiß ich, dass sie durch die Bank unterfinanziert sind. Das gilt auch für amerikanische Organisationen, mit Ausnahme der objektivistischen Institute und Gesellschaften. Nur wenige säkulare Organisationen könnten es sich leisten, Mitarbeiter nach Quoten aus verschiedenen Rassen und Geschlechtern auszuwählen. Selbst, wenn sie einfach irgendwen nehmen würden, nur um eine Quote zu erfüllen.
Die meisten Menschen interessieren sich nicht für kritisch-rationales Denken und Aufklärung. Die meisten Menschen sind bei der freiwilligen Feuerwehr oder im Altenheim ehrenamtlich tätig. Der Grund lautet meist, dass sie nicht die intellektuelle Kompetenz für die Aufklärung besitzen. Und wer sie hat, der glaubt zumeist, es genüge, wenn er als reicher Unternehmer tätig ist, ohne sich für den Erhalt der Grundlagen des reichen Unternehmertums engagieren zu müssen – die freie, aufgeklärte Gesellschaft.
Das Engagement für säkulare Organisationen geschieht meistens ehrenamtlich. Nur ganz wenige Mitarbeiter, die sich wie besessen für die Sache einsetzen, können überhaupt bezahlt werden.
– Ist die Diversität unter euren Sprechern gewährleistet?
Erneut ist keine Rede von der Qualität der Sprecher. Können sie überhaupt öffentliche Reden halten? Haben sie etwas zu sagen? Und welche Themen sind für säkulare Organisationen relevant? Völlig egal. Hauptsache, die Redner sind in Hinblick auf ihre Gruppenzugehörigkeit gemischt, glänzen durch ihre sexuelle und ethnische Vielfalt.
– Sind unsere Konferenzen für Menschen mit einer Vielfalt an Behinderungen zugänglich?
Sogar die Behinderungen von Menschen müssen dieser Tage „divers“ sein. Wir als Plus-Atheisten wollen nicht nur Menschen mit einem gebrochenen Arm auf unseren Konferenzen, wir müssen auch Blinde, Taube und Gehbehinderte als solche – nicht als menschliche Individuen – überzeugen, zu uns zu kommen, um unsere Behindertenquote zu erfüllen. Der finanzielle Aufwand, nicht nur Zugänge für Rollstuhlfahrer zu schaffen, sondern auch Untertitel für Gehörlose, Blindenschrift für Blinde auf den Tickets und Dokumenten, ist nicht zu leisten.
– Haben wir Anti-Belästigungs-Richtlinien auf Events und Konferenzen?
Die Anti-Belästigungs-Richtlinien wurden von der Feministin Rebecca Watson durchgesetzt. Wenn man bedenkt, dass wir angeblich Frauen ausschließen, konnte sie lediglich mit ihrer Beschwerde darüber eine beachtliche Popularität in der säkularen Szene gewinnen. Sie ist Stammsprecher auf allen möglichen Konferenzen. Atheistische Konferenzen sollen dieser Forderung zufolge Richtlinien für Besucher bekanntgeben, laut denen jeder rausgeworfen werden kann, der Frauen auch nur verbal belästigt – was immer das konkret heißen mag. Die Entscheidung wird der Willkür der Organisatoren überlassen.
– Gibt es einen Mechanismus für die Unterrichtung von Mitgliedern unserer Gemeinschaft, die sich unsensibel oder beleidigend gegenüber marginalisierten Menschen verhalten? Falls diese Unterrichtungsbemühungen nicht effektiv sind, gibt es einen Mechanismus, um eventuell diese Leute aus unserer Gemeinschaft auszuschließen?
Da sind sie wieder, die „Unterrichtungsbemühungen“, die Umerziehungslager der Marxisten für politisch inkorrekte Mitbürger. Da lasse ich mich lieber von den Vietkong ausfragen als von Greta Christina und ihren Plus-Atheisten.
Warum scheiterte der Neue Atheismus?
Ging es darum, die Amerikaner vom Atheismus zu überzeugen, konnten die Neuen Atheisten statistisch gesehen nicht viel erreichen. Die Zahl der Konfessionsfreien wächst zwar in den USA, aber die Zahl der Atheisten nur wenig (siehe Debatte zwischen dem Amazing Atheist und dem Evangelikalen William Lane Craig über die Zahlen). Unter den Gläubigen nehmen Fundamentalisten stark zu. Im Gegensatz zu Deutschland bleiben die meisten Konfessionsfreien in den USA weiterhin religiös, sie sind nur nicht an eine bestimmte, größere Kirche gebunden.
Einen Grund dafür identifizierten die objektivistischen Denker Alan Germani, Diana Hsieh und Ari Armstrong.
Die mystische Ethik der Neuen Atheisten
Die Neuen Atheisten waren nicht in der Lage, eine säkulare Ethik zu entwickeln. Sie konnten nicht erklären, warum wir gut sein sollten oder was „gut“ überhaupt bedeutet, wenn es keinen Gott gibt. Mit der Ausnahme von Richard Carrier, der ähnlich wie die Objektivisten für einen ethischen Realismus argumentiert, der auf Aristoteles gründet. Aber Carrier gehörte nie zu den öffentlich sichtbarsten Neuen Atheisten. Davon abgesehen gibt es noch Sam Harris, der in seinem Buch The Moral Landscape für einen Utilitarismus auf angeblich objektiver Grundlage argumentierte.
Letzten Endes teilen die Neuen Atheisten jedoch denselben ethischen Kern: Den Altruismus.
1. Christopher Hitchens
Der Journalist Christopher Hitchens schreibt in Der Herr ist kein Hirte, dass Menschen von Natur aus egoistisch seien und er vertritt die Auffassung, wir wären „bessere Säugetiere“, wenn dem nicht so wäre. In der ABC-Sendung Good Morning America wurde er gefragt, was das Gute sei, für das die Religion eintrete. Für Hitchens waren jene gut, „die ihr Leben letztlich für andere leben“ – und Atheisten könnten dies auch.
Laut Hitchens sei das Gewissen „angeboren“ und „jeder außer einem Psychopathen“ habe das „Gefühl“, das dem so sei. Dieses angeborene Gewissen mache Mord und Diebstahl „schrecklich für Menschen, keine weitere Erklärung nötig“ und es verleihe Kindern ein „angeborenes Gespür für Fairness“. Dieses natürliche Gewissen informiert uns auch über unsere „Pflicht gegenüber anderen“. Wir werden also mit dem „Wissen“ geboren, dass der Altruismus die richtige Moral sei.
Damit leugnet Hitchens zwei offensichtliche Tatsachen.
Erstens verüben Menschen schreckliche Verbrechen, ohne dass ihr Gewissen dem widersprechen würde – im Gegenteil wurden die Flugzeugentführer des 11. Septembers in Teilen der islamischen Welt gefeiert. Sie selbst glaubten, den Willen Gottes zu dienen, dem reinen Guten. Kommunisten glaubten, die perfekte Gesellschaft auf den Leichen von Millionen zu errichten. Die Nazis wollten der arische Rasse, aus ihrer Sicht die Verkörperung des Guten auf Erden, zum Sieg verhelfen und „bösartige Rassen“ wie die Juden vernichten.
Zweitens ist Hitchens Begründung für das Gewissen reiner Mystizismus – genau das, was er in Hinblick auf die Religion ablehnt. Er „weiß einfach“, dass der Altruismus das Gute repräsentiert. Es sei angeborenes Wissen, das nicht weiter belegt oder begründet werden müsse. Genau das, was Gläubige in Hinblick auf ihre Glaubenssätze ebenfalls behaupten.
Hitchens begeht einen dritten grundlegenden Fehler. Er schrieb, auch das Irrationale sei angeboren.
Vergangene und aktuelle religiöse Grausamkeiten haben stattgefunden, nicht weil wir böse sind, sondern weil es eine natürliche Tatsache darstellt, dass Menschen, biologisch betrachtet, nur teilweise rational sind. Die Evolution sah es vor, dass unser präfrontaler Cortex zu klein ist, unsere Adrenalindrüsen zu groß und unsere Reproduktionsorgane wurden offenbar von einem Komitee gestaltet; ein Rezept das, alleine oder in Verbindung mit anderem, mit hoher Sicherheit zu einem Unglück oder einer Störung führt.
Zudem habe der Mensch einen „religiösen Impuls“ oder eine „Neigung zum Gottesdienst“ und darum sei der religiöse Glaube unausrottbar, da „wir weiterhin evolvierende Kreaturen sind“.
Wenn dem so ist, hätte sich Hitchens den ganzen Aufwand ersparen können, die Menschen vom Atheismus zu überzeugen. Die Neigung zum Glauben wäre natürlich, sogar die Neigung zu religiösen Grausamkeiten wäre angeboren. Also hätten die Menschen keine Wahl. Also warum dagegen argumentieren?
2. Richard Dawkins und Daniel Dennett
Dawkins (Der Gotteswahn) und Dennett (Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen) sind beide, wie Hitchens, Altruisten.
Die Moral bestehe demnach darin, anderen aufopferungsvoll zu dienen. Dennett hält jene Menschen für moralisch, welche „die Welt durch ihre Bemühungen zu einem besseren Ort machen, wobei sie durch ihre Überzeugung inspiriert werden, dass ihr Leben nicht ihres ist, mit dem sie tun könnten, was sie möchten.“ Menschen sollten ihre „eigenen alltäglichen [diesseitigen?] Angelegenheiten auf die richtige Größe schrumpfen lassen“, weil sie „im großen Ganzen nicht so wichtig sind“. Unmoralisch seien jene, die „selbstbesessen“, „selbstzentriert“ seien, die „sich Zeit lassen mit dem Opfer und den guten Taten“, mit denen sie ihre Zeit verbringen sollten.
Dawkins sieht ebenfalls jene als moralisch an, die „altruistisch“ sind und jene als unmoralisch, die „egoistisch“ sind. Dawkins ist wie Hitchens und Sam Harris (Das Ende des Glaubens) der Auffassung, dass der Mensch angeborene moralische Ideen besitze.
„In den Zeiten unserer Vorväter, als wir in kleinen, stabilen Gruppen lebten wie Paviane“ habe die natürliche Selektion „altruistische Triebe in unsere Gehirne programmiert“, die Dawkins als „Darwinistische Fehler: Gesegnete und wertvolle Fehler“ bezeichnet. Dawkins zitiert eine Theorie Dennetts, laut der unsere irrationale Neigung zur Religiosität „ein Nebenprodukt eines bestimmten, eingebauten Irrationalitäts-Mechanismus im Gehirn“ sei, nämlich „unsere Neigung, die vermutlich genetische Vorteile hat, uns zu verlieben.“
„Keine empirische Forschung“ könne laut Dennett „Fragen nach ultimativen Werten“ beantworten. Also „können wir nichts besseres tun, als uns zusammen hinzusetzen und zu philosophieren, ein politischer Prozess gegenseitiger Überzeugung und Bildung“. Da wir laut David Humes Auffassung, man könne das Sollen nicht vom Sein ableiten, mit Beobachten und Denken nicht weiterkommen, sollen wir uns die existierenden ethischen Auffassungen ansehen und jene akzeptieren, die am populärsten ist. Dawkins stimmt zu, dass Ethik auf moralischem Konsens basieren soll, nur, dass er glaubt, wir bräuchten darüber nicht einmal mehr zu philosophieren, denn dieser Konsens sei schlicht der „moralische Zeitgeist.“
Anstelle blind auf die Bibel zu Vertrauen, sollen wir blind auf den moralischen Konsens vertrauen. Als wäre eine Masse von Menschen zu einer bestimmten Zeit in der Lage, durch ihre bloße Existenz überzeugende moralische Richtlinien zu formulieren. Statt der Ethik des Glaubens sollen wir eine Ethik der Anpasser, der Second-Hander, der Schwammköpfe übernehmen, die ihre moralischen Überzeugungen durch Osmose aus ihrer Kultur, von ihren Eltern, von ihrer „Peer-Group“ aufsaugen, anstatt selbst zu denken und sich unabhängig zu informieren. Die kollektive Überzeugung sei mit moralischen Tatsachen gleichzusetzen. Nur: Wenn das so ist, dann können die Neuen Atheisten auch nicht den moralischen Konsens vergangener Zeiten, wie die Berechtigung von Hexenjagd, Kreuzzügen und Menschenopfern, kritisieren.
3. Sam Harris
Der Philosoph und Neurowissenschaftler Sam Harris (Das Ende des Glaubens) behauptet, er vertrete eine Variante des ethischen Realismus. Demnach könne man eine Ethik von den Fakten der Realität ableiten. Tatsächlich tut er das aber nicht, hält es sogar für umöglich. Er schreibt, wir könnten irgendwann „unser Wissen nicht weiter herunterbrechen“. Ab diesem Zeitpunkt müssten wir „irreduzible Sprünge“ mit Hilfe von „Intuition“ machen. Intuition sei „der grundlegendste Baustein unserer Erkenntnisfähigkeit“. Harris teilt die neo-kantianische Auffassung, dass unsere Wahrnehmungen durch unser Bewusstsein beziehungsweise Nervensystem „strukturiert, editiert oder verstärkt“ würden. „Kein Mensch hat jemals eine objektive Welt wahrgenommen, oder überhaupt eine Welt.“
Auf dieser Grundlage ist ein ethischer Realismus unmöglich. Wenn wir die Realität nicht wahrnehmen können, dann sind wir auch nicht in der Lage, ethische Schlussfolgerungen aus dieser zu ziehen. Wenn unsere Sinne nicht verlässlich sind, dann könnten wir im Grunde nie wissen, ob wir sicher die Straße überqueren können, ob wirklich das Telefon klingelt, ob wir wirklich mit dem Partner zusammen sind, den wir geheiratet haben – oder von dem wir das glauben. Ohne verlässliche Sinne wüssten wir gar nichts und könnten nicht überleben. Wer die Verlässlichkeit der Sinne leugnet, geht davon aus, dass seine Sinne verlässlich sind. Sonst könnte er nichts beweisen (auf Tatsachen der Realität zurückführen), inklusive seiner Meinung, die Sinne wären nicht verlässlich.
Harris gelangt im Gegensatz zu Hitchens zu einem ethischen Maßstab. Unsere Intuitionen sagen uns angeblich, dass dieser Maßstab des Guten das „Glück“ sei und das Böse sei das „Leid“. Wir sollten darum allerdings nicht unser eigenes Glück anstreben und unser eigenes Leid vermeiden, denn eine Handlung „wird nur dann zu einem Gegenstand der Ethik, wenn das Glück anderer bedroht ist“. Dann hätten wir eine „ethische Verantwortung“ ihnen gegenüber. Ethisch zu handeln bedeute, die eigenen Interessen zu ignorieren und „aus Interesse am Glück und Leid anderer zu handeln“.
Der altruistische Utilitarismus von Harris ist ähnlich radikal wie jener des Philosophen Peter Singer. „Es könnte tatsächlich keine ethische Rechtfertigung dafür geben, dass wir glücklichen Menschen uns weiterhin um unseren eigenen Kram kümmern, während andere Menschen verhungern“. Ferner: „Vielleicht würde uns eine klare Sicht auf die Angelegenheit […] verpflichten, pausenlos tätig zu sein, um den Hunger des letzten Fremden zu stillen, als ob er unser eigener wäre. Wer könnte demnach ins Kino gehen und ethisch bleiben? Niemand.“
Warum dann nicht gleich beim religiösen Altruismus bleiben? „Es gibt viel bessere Gründe für die Selbstaufopferung als jene der Religion.“ Wir Atheisten hätten also bessere Argumente dafür im Angebot, dass sich Menschen für andere Menschen selbst schaden sollten.
Was soll jemand tun, dem es nicht gelingt, seine selbstlose Hilfe für andere konsequent durchzuhalten und somit ein „höheres Glück“ zu erreichen? Laut Harris soll er meditieren und sich von der „Illusion des Selbst“ befreien. Und was ist, wenn jemand nicht intuitiv einsehen möchte, dass die Selbstaufopferung die Essenz der Ethik ist? Dann kann er „von jeder ernsthaften Diskussion“ über Moral ausgeschlossen werden.
Außerdem haben wir laut Harris keinen freien Willen. Also können wir uns leider nicht dazu entscheiden, auf ihn zu hören.
Quellen
Für die Quellen der Zitate, siehe: Alan Germani: Die mystische Ethik der Neuen Atheisten
Mehr über Sam Harris‘ „ethischen Realismus“: Ari Armstrong: Sam Harris Scheitern bei der Formulierung einer wissenschaftlichen Ethik und Sam Harris kann wie ein Egoist klingen; zu schade, dass er keiner ist
Sam Harris wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass Ayn Rand bereits eine objektive Ethik entwickelte. Er antwortete, dass er ihre Werke nicht gelesen habe. Daraufhin bot er eine vollkommen falsche Zusammenfassung ihrer Ethik an und nannte sie „Autismus unter neuem Namen“.
Siehe: Ari Armstrong: Sam Harris konnte nicht anders, als Ayn Rand zu verleumden
Warum verlassen sich die Neuen Atheisten in ihrer ethischen Argumentation auf ein angeborenes Gewissen, einen sich „mysteriös transformierenden Zeitgeist“, auf einen demokratischen Konsens ohne Erklärung, warum dieser Konsens wahr sein sollte? Weil man ihre Ethik, den Altruismus, tatsächlich nicht aus der Realität ableiten kann. Im Gegensatz zur objektivistischen Ethik: Dem aufgeklärten Eigeninteresse. Siehe für einen kurzen Einblick, wie das funktioniert, den Philosophiebereich, vor allem Ethik.
Religion ist nicht das grundlegende Problem
Die Neuen Atheisten begingen einen weiteren Fehler, nämlich ihren Atheismus und ihre Ablehnung der Religion als zentrale Aussage in den Vordergrund zu rücken. Das grundlegende Problem ist aber nicht religiöser Glaube – der ist nur eine Variante des eigentlichen Problems, nämlich der Irrationalität. So argumentiert die objektivistische Philosophin Diana Hsieh in ihrem Blogeintrag Warum die Neuen Atheisten nicht einmal D’Souza schlagen können: Das Beste und das Schlechteste in der menschlichen Geschichte.
Die Ursache der Gewalt ist die Irrationalität. Wenn sich irrationale Menschen streiten, die ihre Überzeugungen aus ihren Genen, einer Offenbarung, der kollektiven Weisheit ihres Stammes gewinnen, so können sie andere Menschen nicht überzeugen, indem sie auf die Realität hinweisen, die jeder wahrnehmen kann. Glaube und Gewalt gingen darum historisch Hand in Hand. Menschengruppen mit unterschiedlichen Überzeugungen schlugen sich gegenseitig die Köpfe ein. Wer mit willkürlichen Behauptungen nicht einverstanden war, wurde von allen anderen verbrannt.
Nicht nur religiöse Gläubige sind irrational, sondern auch säkulare Ideologen wie Kommunisten und Faschisten, welche die Vernunft ablehnen und an ihre Stelle die Weisheit des Kollektivs oder ihre „animalischen Instinkte“ in einem „Überlebenskampf“ setzen.
Das Irrationale ist das Böse.
Fazit
Die Neuen Atheisten waren nicht in der Lage, eine auf Fakten basierende Moral zu entwickeln. Darum konnten sie nur wenige gläubige Menschen überzeugen. Atheism + ist die konsequente Degeneration der säkularen Bewegung zu einer primitiven Bande politischer Ideologen. Wer Kompromisse mit dem Irrationalen eingeht, muss verlieren. „In jedem Kompromiss zwischen dem Guten und dem Bösen kann nur das Böse profitieren“ (Ayn Rand). Positiv kann man anmerken, dass die Neuen Atheisten ihre Religionskritik deutlich äußerten und die Kritik von dem Unsinn, den manche Menschen für heilig halten, nicht länger tabu ist
Dabei ist die Alternative, eine konsequente säkulare Philosophie mit einer universell nachvollziehbaren Ethik auf Grundlage der Tatsachen der Realität, schon lange verfügbar: Der Objektivismus.