Ayn Rands objektivistische Ethik ist in fundamentalen Bereichen fehlerhaft und insgesamt grundlegend falsch. Das habe ich nun dank eines neuen Buches des US-amerikanischen Denkers Ari Armstrong erkannt. Er war es, der mich vor vielen Jahren in den Objektivismus eingeführt hat und da ist es nur angemessen, dass er es ist, der mich nun wieder herausführt. Oder zumindest aus bestimmten Aspekten des Objektivismus.
Im Folgenden soll aufgezeigt werden, worin der Fehler besteht, welche Folgen er hat und wie eine mögliche Alternative zur objektivistischen Ethik aussehen könnte. Rands Gegner sollten sich dabei nicht zu früh freuen, denn jede vernünftige Ethik muss nach meinem Dafürhalten weiterhin objektiv sein. Ethik muss also logisch aus Tatsachen der Realität abgeleitet werden – leider ist Ayn Rand dies aber nicht vollumfänglich gelungen.
Der Maßstab von Ayn Rands objektivistischer Ethik ist das individuelle Überleben des Menschen. An diesem Maßstab ist ihre gesamte Ethik ausgerichtet – alles, was wir tun, soll unserem Überleben dienen. Der US-amerikanische Philosoph Ari Armstrong zeigt in seinem neuen Buch „What’s Wrong With Ayn Rand’s Objectivist Ethics“ auf, dass dieser Maßstab der Kritik seitens mehrerer Denker nicht standhalten kann. Das Überleben ist kein brauchbarer objektiver Wertemaßstab (was nicht die Möglichkeit eines solchen Maßstabs ausschließt).
Mit dem Maßstab der objektivistischen Ethik ist Rands gesamtes ethisches System, das daran ausgerichtet ist, als solches hinfällig. Dies hat auch Implikationen für andere Teilbereiche ihrer Philosophie, wobei jedoch weite Teile von Metaphysik und Epistemologie erhalten bleiben und auch vieles, was sie über Ethik und Ästhetik zu sagen hatte, Bestand hat.
Ich bin seit Jahren ein Anhänger von Ayn Rand, habe zahlreiche Artikel über ihre Philosophie geschrieben und Vorträge zum Thema gehalten. Vieles davon halte ich auch weiterhin für richtig. Und doch ist die Widerlegung von Rands Ethik ein erheblicher Schlag für ihre Philosophie – und somit für mein Weltbild.
Das Überleben als Mensch als ethischer Maßstab
In ihren frühen Werken wie „Anthem“ und „We The Living“ hielt Ayn Rand noch ein gutes und glückliches Leben für das, was wir anstreben sollten. Doch mit ihrem Roman „The Fountainhead“ wechselte sie 1943 erstmals zum neuen Maßstab, an dem wir uns orientieren sollen, dem individuellen Überleben als Mensch. Im Essay „The Objectivist Ethics“ schreibt Rand Folgendes zum Thema:
„Der Maßstab der Objektivistischen Ethik – der Maßstab, anhand dessen man beurteilt, was gut und böse ist – ist das menschliche Leben oder: das, was für das Überleben des Menschen als Mensch erforderlich ist.
Da die Vernunft die grundlegende Überlebensmethode des Menschen ist, ist das, was einem Leben als vernünftiges Wesen angemessen ist, das Gute; das, was es negiert, ihm widerstrebt oder es zerstört, ist das Böse. Da alles, was der Mensch benötigt, von seinem eigenen Geist herausgefunden und durch seinen eigenen Aufwand produziert werden muss, sind die beiden Grundlagen der einem vernünftigen Wesen angemessenen Überlebensmethode: Denken und produktive Tätigkeit.“
Aus dieser und anderen Aussagen von Rand haben ihre Anhänger die „Standardinterpretation“ der objektivistischen Ethik abgeleitet. Demnach geht es nicht um ein gutes Leben oder ein glückliches Leben, sondern wir sollten alle unsere Handlungen an unserem biologischen, physischen Überleben ausrichten. Selbst spirituelle Werte wie Freundschaft und Liebe dienen laut Rand und ihren Anhängern letztlich dem Überleben (unter anderem als Motivation). Rands Ergänzung, es ginge um das Überleben „als Mensch“, weist auf die Besonderheit des Menschen im Unterschied zu anderen Lebensformen hin: Der Mensch überlebt durch den Gebrauch seiner Vernunft.
Die Ergänzung „als Mensch“ wurde von vielen Objektivisten allerdings missverstanden oder missbraucht, um Handlungen zu verteidigen (wie eine Familie zu gründen), die nicht dem individuellen Überleben dienen oder ihm gar entgegenstehen. Tatsächlich meint Rand jedoch, dass es im Leben wirklich letzten Endes nur um unser persönliches Überleben gehen soll – und um nichts anderes.
Darum scheitert Rands Ethik
Zunächst einmal ist Rands Verständnis der Biologie falsch. Sie glaubt, dass „die Funktionen aller lebenden Organismen auf physischer Ebene […] Handlungen sind, welche der jeweilige Organismus selbst hervorbringt und die ein einziges Ziel verfolgen: Die Aufrechterhaltung des Lebens des Organismus.“ (TOE) Mit der „physischen Ebene“ meint Rand, dass diese Handlungen bei Pflanzen und Tieren nicht der Willensfreiheit unterliegen, was auch stimmt. Tatsächlich jedoch verfolgen die Handlungen jener Lebewesen eben nicht das Ziel, ihr individuelles Überleben zu sichern, sondern das Überleben ihrer Gene.
Organismen sind die „Überlebensmaschinen ihrer Gene“, wie der Zoologe Richard Dawkins es ausdrückt. Aus diesem Grund opfern sich auch einige Tiere regelmäßig selbst, um das Überleben ihrer Nachkommen (die ihre Gene tragen) zu sichern. Nun sagt Rand, dass der Unterschied zwischen Tier und Mensch vor allem darin bestünde, dass sich Menschen bewusst für das Überleben entscheiden müssten, da sie über die Willensfreiheit verfügen. Sie überleben nicht automatisch, sondern sie müssen durch Anwendung der Vernunft herausfinden, wie sie überleben. Gleich anderen Lebewesen sollen auch Menschen ihre gesamten Handlungen auf ihr Überleben ausrichten – nur aus freier Wahl und nicht aus Instinkt.
Tatsächlich überleben wir durch Anwendung unseres Verstandes und durch die freie Entscheidung, das zu tun, was zum Überleben notwendig ist. Das Problem besteht darin, dass Rand nicht beweisen kann (oder auch nur erklärt), warum der Mensch seine gesamten Handlungen am Überleben ausrichten soll – und nicht an anderen Werten oder zumindest auch an anderen Werten. Beispiele für andere bedeutende Werte als das eigene Überleben sind Kinder oder ein Leben in Freiheit. Für solche Werte haben Menschen ihr persönliches Überleben schon riskiert – und es auch einige Male geopfert. Laut Rands Ethik wäre das verwerflich.
Für Rand ist das persönliche Überleben „der Endzweck oder das letztendliche Ziel, zu dem alle geringeren Werte die Mittel sind“ (TOE). Es gibt keinen guten Grund, das so zu sehen. Zwar sind Leben und Tod grundlegende existenzielle Alternativen und es ist klar, dass wir uns um unser Überleben bemühen müssen, um Werte leben zu können – aber das schließt nicht die Möglichkeit von Werten aus, die nicht das Überleben als Ziel haben.
Ausblick
Es ist an der Zeit für einen besonders üblen Cliffhanger. Aber keine Panik: In den nächsten Tagen geht die Serie weiter. Damit niemand auf dumme Ideen kommt, einige Hinweise: Die Argumentation von Armstrong und von mir wird darauf hinauslaufen, dass unser eigenes Leben in einem weiteren Sinne (nicht unser bloßes Überleben) ein sinnvoller Maßstab für eine objektive Ethik darstellt. Nicht alle Werte müssen unserem Überleben dienen, sondern es gibt auch wichtige Werte im Leben, die auch anderen Zwecken dienen sowie Werte, die reiner Selbstzweck sind, ein „Wert an sich“ (aber dabei nicht unabhängig vom Wertenden!). Alle dieser Werte machen ein menschliches Leben aus.
Meine Zweifel am Überleben als Maßstab sind nicht neu, ich habe sie schon vor Jahren in Überleben oder gutes Leben geäußert. Auch habe ich meine Bedenken gegenüber mehreren Vertretern des Ayn Rand Institute persönlich explizit zum Ausdruck gebracht. Ihre Repliken haben mich nicht überzeugt. Ich werde in den nächsten Blogposts die Argumentation zu Ende führen und erläutern, welche Folgen Rands Irrtum hat. Mir war bislang nämlich leider nicht bewusst, wie schwerwiegend die Auswirkungen dieses Fehlers für Rands Philosophie sind.
Fortsetzung: Zu Teil 2 über Kinder, Berufswahl und Pflichten