Ayn Rands Ethik ist falsch: Teil 2 über Kinder, Berufswahl und Pflichten

Sollten alle unsere Handlungen unserem Überleben dienen? Ayn Rands Ethik ist am persönlichen Überleben ausgerichtet, aber ich denke, das Leben hat mehr zu bieten. Wir tun gewiss viele Dinge, die unserem Überleben zuträglich oder dafür notwendig sind, wie Essen, Schlafen und auf unsere Gesundheit achten, doch es gibt auch viele bedeutende Werte im Leben wie gutes Essen (nicht unbedingt dasselbe wie nahrreiches Essen), Sex und Kinder haben, den Sonnenuntergang betrachten, die nicht oder nicht nur unserem Überleben dienen – ja, die unserem eigenen Überleben sogar schaden können (wie Kinder, die viele Ressourcen verschlingen).

Hier möchte ich nun an den ersten Teil anschließen und näher ausführen, warum Ayn Rands objektivistische Ethik falsch ist. Dabei teile ich Ari Armstrongs Analyse in „What’s Wrong With Ayn Rand’s Ethics„, ergänze sie aber um eigene Argumente und um weitere Aspekte. Ich nenne auch persönliche Beispiele, wie man sich mit Ayn Rands Ethik schaden kann. Mein wichtigster eigener Beitrag ist die Identifikation von Rands Ethik als das, was sie explizit am stärksten abgelehnt hat: Ayn Rands Ethik ist eine Pflichtethik.

Ist das Aussterben der Menschheit ein humanistisches Ziel?

Wie Ayn Rands treuer Anhänger Harry Binswanger schrieb, „würde es Lebewesen erheblich besser gehen, wenn sie von reproduktivem Verhalten absehen könnten.“ (The Biological Basis of Telelogical Concepts“, S. 156). Ayn Rand selbst hatte keine Kinder und ließ angeblich eine Abtreibung durchführen. Sie sah Kinder als eine gewaltige, lebenslange Verantwortung („Of Living Death„) und riet Freunden angeblich davon ab, Kinder in die Welt zu setzen, weil sie ihre Eltern quasi zu Sklaven machen würden (steht in „100 Voices: An Oral History of Ayn Rand“). In Rands Romanen kommen keine Kinder vor.

Solche Auffassungen sind angesichts von Rands Philosophie nicht verwunderlich und tatsächlich hätte Rand Kinder konsequenterweise noch mehr ablehnen müssen, als sie es getan hat. Kinder verschlingen eine Unmenge an Ressourcen, welche die Eltern produzieren müssen. Neben Geld kosten sie auch viel Zeit, sie schaden eher dem Überleben der Eltern, als das sie ihm nützen würden. Trotzdem empfinden sehr viele Menschen Kinder als wichtige Bereicherung ihres Lebens. Und das ist auch berechtigt – aber nicht laut Rands egoistischer, Überlebens-fixierter Ethik.

Tatsächlich war diese logische Folge – Kinder bekommen ist, denkt man Rands Ethik zu Ende, moralisch verwerflich – eine meiner größeren Probleme mit dem Objektivismus. Wäre jeder ein Objektivist, gäbe es bald keine Menschen mehr. Kann eine humanistische Ethik wirklich solche Folgen haben?

Biologischer Determinismus ist nicht die Lösung

Ich muss dabei jedoch ein häufiges Missverständnis von Teil 1 auflösen: Ich argumentiere keineswegs nun für einen biologischen Determinismus, laut dem wir nicht unser individuelles Überleben, sondern das Überleben unserer Gene im Blick haben sollten. Wie Steven Pinker schrieb (in „The Blank Slate“), würden Männer nur noch an Samenbanken anstehen, um das Überleben ihrer Gene sicherzustellen, würde unser Gehirn so funktionieren. Oder sie würden versuchen, ihr Leben lang mit so vielen Frauen Sex zu haben, wie es irgendwie geht und Frauen würden so viele Kinder gebären und aufziehen wie möglich – wir würden unsere gesamte Ethik nur an der Reproduktion ausrichten.

Ich habe vielmehr argumentiert, dass es keinen guten Grund gibt, unser menschliches Leben durch einen freien Willensakt an einem Ziel auszurichten, das andere Lebensformen instinktiv verfolgen. Ob dieses Ziel das individuelle Überleben oder das Überleben der Gene ist, spielt keine Rolle. Es ist wahr, dass Ayn Rand die Bedeutung von Kindern für das menschliche Leben unterschätzt hat – aber wir sollten sie nun nicht überschätzen und nur noch für die Reproduktion leben. Ich argumentiere, dass es noch andere wichtige Werte im Leben gibt als das eigene Überleben, darunter möglicherweise (nicht zwangsweise) Kinder, aber auch gutes Essen, Entspannung, Hobbys, Kunst, Freunde, die zwar teilweise auch einen Überlebenswert haben, aber auch aus anderen Gründen Werte für uns sind.

Politisch betrachtet sollten wir uns frei für die Werte entscheiden dürfen, die unser Leben bereichern, solange wir anderen nicht in die Quere kommen. Dabei haben wir aber die empfehlenswerte Möglichkeit, objektiv gute Werte anzustreben und nicht auf unsere Willkür (Subjektivismus) zu vertrauen, weil das unserem Leben schaden würde. Welche Werte objektiv sind, ist zwar schwerer zu beantworten, als Rand dies glaubte, aber es ist dank Wissenschaft und Philosophie durchaus möglich. Zum Beispiel ist betrunken im Straßengraben sterben nichts, was wir objektiv anstreben sollen, aber ein erfülltes Leben mit einem Beruf, den wir lieben, und wertvollen Beziehungen zu anderen Menschen zu führen, schon eher.

Muss unser Beruf unsere Überlebenschancen maximieren?

Explizit hat Ayn Rand jeden Menschen dafür gelobt, seinen Beruf, für den er sich entschieden hat, nach seinen besten Fähigkeiten auszuüben. In „Atlas Shrugged“ spricht sie Bewunderung für einen sehr fähigen Busfahrer aus, im realen Leben bewunderte sie ihren eigenen Fahrer („100 Voices“) für sein Talent. Denkt man jedoch ihre Ethik zu Ende, müsste jeder Mensch eigentlich einen sicheren und gut bezahlten Beruf anstreben, da er so besser überlebt. Und es wäre moralisch fragwürdig, einen Beruf zu erlernen, der riskant oder schlecht bezahlt ist – wie Feuerwehrmann, Polizist oder Buchautor.

Nun… Ihr wisst ja, was ich bin. Ich bin Germanist und ausgebildeter Journalist. Ich habe Bücher geschrieben, Philosophie gelehrt und im Marketing gearbeitet. Ich kann heute vom Schreiben leben. Ich bin allerdings kein Vorzeige-Überlebensexperte, ich bin kein Millionär, ich habe keinen außergewöhnlich gut bezahlten Beruf erlernt, sondern zähle nur zur Mittelschicht (und nicht auf die Art, wie Friedrich Merz zur Mittelschicht gehört). Ayn Rand hat zwar ebenfalls vom Schreiben gelebt, aber viel besser als ich. Somit bin ich aus der Sicht von Ayn Rands Ethik im Grunde irrational und habe eine moralisch fragwürdige Berufswahl getroffen. Auch wenn Ayn Rand selbst das nicht so sehen würde, entgegen ihrer expliziten Ethik.

Versuchen Sie mal, mit einer Ethik zu leben, die ihnen sagt, dass Sie ein irrationaler, unmoralischer Verlierer sind, weil Sie den Beruf ausüben, den Sie lieben.

Objektivismus als Pflichtethik

Ich selbst habe den Objektivismus stärker als Pflichtethik erlebt, als Rand das gewollt hätte. Sie hat eine Pflicht als „moralische Notwendigkeit“, definiert, „bestimmte Handlungen aus keinem anderen Grund als dem Gehorsam gegenüber irgendeiner höheren Autorität auszuüben, ohne Rücksicht auf irgendein persönliches Ziel, Motiv, eine persönliche Leidenschaft oder ein Interesse.“ Laut Rand zerstört die Orientierung an einer Pflichtethik die Vernunft, Liebe, Werte und Selbstachtung, letztlich die Ethik selbst. „In der Wirklichkeit und in der objektivistischen Ethik gibt es nicht so etwas wie eine ‚Pflicht‘.“ (Causality versus Duty)

Der Philosoph David Kelley schrieb über Leonard Peikoffs „Objectivism: The Philosophy of Ayn Rand“ (die wichtigste systematische Darstellung von Rands Philosophie), dass der Objektivismus darin stärker wie eine Pflichtethik klingt, als es Rands Ziel gewesen sein kann (leider weiß ich die Quelle der Aussage nicht mehr). Das liegt wahrscheinlich aber nicht an Peikoff, wie Kelley glaubt, sondern an der Ethik selbst. Richtet man sein Leben nämlich am Überleben aus, dann wird man auf viele Freuden verzichten müssen, vielleicht sogar auf das, was das Leben erst lebenswert macht.

Dient Briefmarkensammeln dem Überleben?

Objektivisten denken sich gerne Geschichten – Rationalisierungen – aus, um zu erklären, wie alle möglichen Werte im Leben doch irgendwie unserem Überleben dienen sollen. Rand war zum Beispiel der Meinung, dass ihr Faible für Katzenbilder und Briefmarkensammeln ihrem Überleben dienen würde. So würde das Briefmarkensammeln angeblich das Streben nach Überleben reflektieren und uns so zum Überleben motivieren: „Im Verlauf einer Karriere ist jede Errungenschaft ein Selbstzweck und zugleich ein Schritt in die Richtung weiterer Errungenschaften. Beim Briefmarkensammeln ist jede neue Briefmarke ein Ereignis, eine Freude, und zugleich ein Schritt für das Wachstum der eigenen Sammlung.“ („Why I Like Stamp Collecting“).

Die extreme Fixierung von Objektivisten auf ihre berufliche Karriere (die ihrem Überleben besonders dienlich ist) hat natürlich auch Vorteile, so sind viele Objektivisten wohlhabend geworden. Aber die Schattenseite ist das Herunterspielen, Auslassen, Rationalisieren anderer bedeutender Lebensinhalte und ein schwerwiegendes Schuldgefühl, wenn man etwas tut, das nicht offensichtlich dem Überleben dient.

„Ich könnte jetzt dieses Computerspiel machen oder ich könnte wieder einen Artikel für Novo schreiben oder für eine andere Publikation, ich könnte mich weiterbilden, ich könnte produktiv sein und meine Karrierechancen verbessern.“ Es ist klar, welche Entscheidung ich als Objektivist da häufiger getroffen hatte. Meine wöchentliche Arbeitszeit lag über einen längeren Zeitraum ungesund hoch – und ich meine Arbeitszeit und nicht „ein bisschen arbeiten und dann wieder rumhängen, im Internet surfen, mit Kollegen reden etc.“. Arbeiten. Die ausschließliche Fixierung auf das Überleben nimmt einem Menschen Schritt für Schritt jeden Grund und jede Kraft, warum er überhaupt weiterleben sollte.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, welche Schrankfarbe am besten ihrem Überleben dienlich sein könnte? Ich schon. Ich befand mich am Ende meines Objektivisten-Daseins in einem psychologischen Zustand, dem ich meinen schlimmsten Feind (ich schaue Dich an, Michael Blume. Spaß!) nicht wünsche.

Ausblick

Im nächsten Teil geht es unter anderem um Rands Begründung individueller Rechte. Diese hat ernsthafte Mängel und letztlich gibt es keinen guten Grund für einen Egoisten (Rands Ethik ist „egoistisch“ im Sinne des aufgeklärten Eigeninteresses), die Rechte seiner Mitmenschen stets zu achten.

Im Übrigen plane ich noch immer einen neuen Essay, der die Willensfreiheit verteidigt. Ich habe nämlich neben Armstrongs Buch auch „The Illusion of Determinism“ des Objektivisten Edwin A. Locke gelesen und stimme ihm zu, auch wenn es einige Erklärungslücken in Rands Theorie der Willensfreiheit gibt. Zunächst einmal geht es aber weiter mit der Kritik an Aspekten des Objektivismus, denen ich nicht mehr zustimme.

Zu Teil 1: Ayn Rands Ethik ist falsch

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