Die Bedeutung der Metaethik für unser Leben sollte geklärt sein. Siehe dazu den letzten Beitrag: Das Fundament von Ayn Rands Ethik. Es hat sich aber herausgestellt, dass einigen Lesern der Zusammenhang zwischen Ayn Rands Metaethik und ihrer Ethik noch unklar ist.
Bevor ich die Fehler mit Rands Metaethik aufzeige, möchte ich daher zunächst erläutern, was es mit dem „ultimativen Wert“, dem „Maßstab“, der „kontextuellen Absolutheit“ und der Natur des Menschen auf sich hat. Auch versuche ich zu erklären, was das „Überleben als Mensch“ bedeutet. Einiges davon hat auch Gültigkeit, falls Rands Metaethik nicht stimmt.
- Menschliche Natur
- Ultimativer Wert
- Maßstab
- Überleben als Mensch
- Kontextuelle Absolutheit
- Die große Schwierigkeit beim Verständnis von Rands Ethik
Menschliche Natur
Ayn Rand ist keine moderne Philosophin, obwohl sie im 20. Jahrhundert lebte. Sie ist eine klassische Philosophin in aristotelischer Tradition. Das heißt, sie hat sich mit Themen befasst, die für unser Leben tatsächlich wichtig sind. Jedes Mal, wenn ich Leuten sage, dass ich mich für Philosophie interessiere, dann verbinden sie das mit Fragen wie: „Was ist die Bedeutung des Universums?“, „Leben wir in einer Matrix?“, „Würdest Du jemanden vor einen Zug werfen, um fünf weitere Menschen zu retten?“. Ich empfinde das als beleidigend.
Für klassische Philosophen befinden sich solche Fragen auf der Ebene von Partyspielen. Sie sind Unterhaltung. Man könnte sich auch Ideen zu einem Science-Fiction-Film ausdenken oder lustige Tiergeräusche machen. Das ist keine Philosophie. Richtige Philosophie befasst sich mit den Fragen: „Wie ist die Welt grundlegend beschaffen?“ (Metaphysik), „Was können wir wissen und wie können wir es wissen?“ (Epistemologie), „Wie sollen wir handeln?“ (Ethik), „Wie können wir in einer Gemeinschaft mit anderen leben?“ (Politik) und „Was ist das Schöne?“ (Ästhetik).
Ayn Rands Ethik beruht auf ihrem Welt- und Menschenbild. Sie ist der Auffassung, dass wir in einer geordneten Welt leben, in der Naturgesetze gelten, und die wir mit unserem Verstand vollständig verstehen können. Sie glaubt, dass die Vernunft die Überlebensmethode des Menschen ist – dass er überlebt, indem er die Natur erforscht und sie für sich nutzt. Sie ist der Auffassung, dass wir einen freien Willen haben und uns daher frei entscheiden müssen, durch den Gebrauch unseres Verstandes zu überleben.
Da die Welt Regeln gehorcht, können wir in ihr am besten überleben, wenn wir Regeln befolgen, welche der Natur der Realität entsprechen: Tugenden wie Ehrlichkeit und Produktivität. So erreichen wir spirituelle Werte wie Rationalität (wir sollen nicht unseren Verstand verlieren, sondern klar denken können), Selbstvertrauen (wir müssen glauben, dass wir es verdienen, zu überleben) und einen Lebenssinn (wir brauchen einen individuellen Daseinsgrund wie eine Karriere oder eine Familie). Der Lebenssinn ist dem ultimativen Wert, der für alle Menschen gilt, untergeordnet.
Ultimativer Wert
Der ultimative Wert ist der letztendliche Zweck einer auf die Erzielung und Erhaltung von Werten ausgerichteten Ethik. Mit anderen Worten gibt es nicht in jeder Ethik einen solchen ultimativen Wert, beispielsweise fehlt er in reinen Tugendethiken. Laut Rand ist der ultimative Wert ihrer Ethik unser individuelles Überleben. Das ist es, was wir laut Rand letzten Endes stets anstreben sollten. Ihr Grund dafür lautet, dass ihrer Meinung nach Tiere und Pflanzen automatisch ihr Überleben anstreben und wir uns dazu aufgrund unserer Willensfreiheit bewusst entscheiden müssten. Oder wir sterben.
Maßstab
Der ethische Maßstab dient zur Beurteilung unserer Handlungen. In Rands Ethik ist der ethische Maßstab das individuelle Überleben (das auch der ultimative Wert ist). Das heißt, wir sollen alle unsere Handlungen daran beurteilen, ob sie im Dienste unseres Überlebens stehen.
Zum Beispiel ist eine Karriere gut für unser Überleben, Faulheit nicht. Und Kinder in der Regel auch nicht, die verbrauchen eher unsere Ressourcen. In meiner objektivistischen Zeit habe ich mir solche Fragen gestellt: Dient es meinem Überleben, dieses Eis zu essen? Dient es meinem Überleben, diesen Film anzusehen statt zu studieren oder Bewerbungen zu verschicken? Eine Partnerin dient meinem Überleben, da wir von dem Tausch von Werten profitieren, warum gelingt es mir dann nicht, eine zu finden?
Überleben als Mensch
Dem Objektivismus geht es nicht um unser rein biologisches Überleben. Wir könnten beispielsweise auch in einer Gefängniszelle überleben oder als Obdachlose. Vielmehr sollten wir „als Mensch“ überleben. Das bedeutet: durch den Gebrauch unseres Verstandes. Indem wir die Natur untersuchen und sie für unsere Zwecke nutzen. Für die meisten Menschen bedeutet das in der Praxis: Wir überleben, indem wir produktiv tätig sind – einem Beruf nachgehen.
Kontextuelle Absolutheit
Ursprünglich wollte Ayn Rand ihre Philosophie nicht „Objektivismus“, sondern „kontextuelle Absolutheit“ nennen, beziehungsweise „kontextueller Absolutismus“. Das liegt daran, dass ihre Ethik ein bestimmtes Verhalten für bestimmte Typen von Situationen nahelegt. Laut absoluten Ethiken wie jenen von Religionen und Immanuel Kant sollen wir immer bestimmte Regeln befolgen, zum Beispiel sollen wir nie lügen. „Du sollst nicht lügen“ lautet das achte Gebot.
Nun ist Ehrlichkeit auch eine Tugend im Objektivismus. Hier lautet die Regel aber: Du sollst nicht lügen, um einen Wert von einem anderen zu erhalten. Beispielsweise soll man nicht so tun, als wäre ein Gebrauchtwagen, den man verkaufen möchte, intakt, wenn er tatsächlich beschädigt ist. Man kann jedoch lügen, um etwa den unverdienten Verlust eines Wertes abzuwehren – beispielsweise kann man einen Dieb belügen.
Eine Tugend gilt also stets in einem bestimmten Kontext, sie hat eine bestimmte, eingegrenzte Bedeutung.
Die große Schwierigkeit beim Verständnis von Rands Ethik
Die größte Herausforderung scheint darin zu bestehen, das Verhältnis des ultimativen Wertes und des Maßstabes „Überleben“ zu unseren Handlungen nachzuvollziehen. Und tatsächlich gibt es damit einige Probleme, weil das Überleben als ultimativer Wert schlicht keinen Sinn ergibt. Rand war nicht immer konsistent, wenn es darum geht, ihre Figuren in „Atlas Shrugged“ ihrer Ethik gemäß handeln zu lassen.
Das bekannteste Beispiel ist John Galts Androhung in „Atlas Shrugged“, Selbstmord zu begehen, falls Dagny gefangen genommen wird. Galt erläutert in einem rationalisierenden Absatz, warum es irgendwie seinem Überleben dienen soll, sich umzubringen. Könnte er nicht mehr als Mensch leben ohne Dagny?
Doch. Es ergibt schon mehr Sinn, dass sich ein Objektivist, der gezwungen ist, in einer Diktatur zu leben, umbringen würde. Hier könnte man argumentieren, dass er nicht „als Mensch“ durch Produktivität und Rationalität existieren könnte.
Doch ein Lebenspartner ist für Rand nur ein Begleiter im Leben, das übergeordnete Ziel ist die produktive Tätigkeit, die unmittelbarer dem Überleben dient. Man kann den Verlust einer Begleiterin und Werte-Tauschpartnerin bedauern – aber sich nicht deswegen umbringen. Tatsache ist wohl, dass Rand es einfach romantisch fand, wenn sich ein Mann ohne sie (Dagny verkörpert Rand) umbringen würde. Sie demonstriert in ihren Werken durchgehend ein eher primitives, Teenager-haftes Verständnis von Romantik – etwa auch, wenn Galt Dagny nach Hause trägt oder wenn Howard Roark Dominique „nimmt“.
Ich sollte noch einmal darauf hinweisen, dass die obigen Ausführungen Ayn Rands Denken sind – nicht meines. Ich finde es richtig, sich an der Natur der Dinge und an der menschlichen Natur zu orientieren, um eine objektive Ethik zu entwickeln. Ich denke aber nicht, dass Ayn Rand dies gelungen ist.
Zu Teil 1: Das Fundament von Ayn Rands Ethik erklärt