Warum sind viele Vegetarier Heuchler?

In früheren Beiträgen kritisierte ich den Vegetarismus. Ich schrieb, dass es fast keine echten Vegetarier gebe, dass Vegetarier Heuchler seien (was viele statistisch auch sind) und dass das wichtigste Buch zur Tierethik die „Kritik der vegetarischen Ethik“ von Klaus Alfs sei.

Das Buch von Alfs finde ich immer noch gut – alle ethischen Vegetarier und Veganer sollten sich mit den Argumenten darin befassen. Ich habe die wichtigsten Einwände bei der Formulierung meiner Tierwohl-Position einbezogen in Ich bin jetzt Vegetarier und Vegetarismus: Antworten auf die wichtigsten Einwände.

Aber es stimmt: Viele selbst bezeichnete Veganer und Vegetarier sind keine, sondern sie essen weiterhin Fleisch. Und es ist eine gute und wichtige Frage, warum das so ist.

Ja, auf einmal ist ausgerechnet mir das Tierwohl besonders wichtig. Ich weiß, dass ich früher andere Positionen vertreten habe. Ich habe auch andere Positionen zur Gottesfrage vertreten (Atheismus > Agnostizismus), zur Willensfreiheit (Determinismus > Kompatibilismus > Libertarismus), zur Ethik (Aufgeklärtes Eigeninteresse > intuitionistische Tugendethik), zur politischen Philosophie (Libertarismus > Kommunitarismus) und zu vielen anderen Themen. Das liegt daran, dass ich über die Jahre bis Jahrzehnte dazulerne. Es liegt daran, dass ich kein dogmatischer Fanatiker bin. Ich lasse mich eines Besseren belehren, was Philosophen auch tun müssen.

Also ja: Die Studien, die ich damals angesprochen hatte, besagen, dass viele „Vegetarier“ insgeheim Fleisch essen und dass viele nach einer Weile offiziell zum Fleischkonsum zurückkehren. Ich hatte selbst vor über einem Jahrzehnt einen kurzen Vegetarier-Trip. Und ich hatte als Kind und Jugendlicher anlässlich der BSE-Krise kein Rindfleisch gegessen, bis mir klarwurde, dass das kein guter Grund war. Es gab also früher schon Fleischverzichtsphasen in meinem Leben. Der Verzicht auf Rindfleisch hielt viele Jahre an, das dürften bis zu zwei Jahrzehnte gewesen sein. Die Vegetarierphase dauerte nur zwei Wochen.

Meine frühere vegetarische Phase hatte ich aus zwei Gründen beendet: 1. Ich hatte meine übrige Ernährung nicht umgestellt, dadurch war sie viel zu einseitig. 2. Ich fand Peter Singers Präferenzutilitarismus, der mich zum Vegetarismus geführt hatte, nicht mehr überzeugend (und das sehe ich weiterhin so).

Ich denke, es gibt sehr viele Gründe, warum viele Leute den Vegetarismus und Veganismus nicht durchziehen.

  1. Sie verzichten darauf, ihre gesamte Ernährung umzustellen. Stattdessen essen sie weiterhin vor allem Fast Food, Torten, Süßigkeiten, hochverarbeitete Lebensmittel. Wie ich in meiner früheren Vegetarierphase. Das kann man als Vegetarier oder Veganer jedoch nicht machen, weil man ein breites Spektrum an Gemüse, Getreide, Früchten, Salat zur Ernährung benötigt, um Fleisch zu ersetzen.
  2. Unsere Kultur gestattet den Fleischkonsum, fördert ihn teils sogar. Die Versuchung ist groß, inkonsequent zu sein und den Vegetarismus/Veganismus schließlich ganz aufzugeben.
  3. Die eigene Familie möchte nicht mitmachen. Die meisten von uns leben nicht auf einer Insel, sondern müssen sich mit anderen arrangieren. Das kann zu Kompromissen führen oder sogar dazu, dass man die Sache schließlich ganz aufgibt, um nicht als Sonderling zu wirken und Anstoß zu erregen. Tatsächlich sollte man als Vegetarier und Veganer auf andere Rücksicht nehmen. Wer auf eine Party geht, muss vom Gastgeber keine fleischlose Alternative einfordern, sondern kann selbst eine mitbringen. Nicht, weil sie ethisch Recht hätten, sondern weil es halt so ist und man die Menschen nicht überfordern kann, sondern sie mitnehmen muss, wo sie stehen. So macht man auch den eigenen Vegetarismus/Veganismus attraktiver.
  4. Die meisten Menschen sind weder religiöse Fundamentalisten noch Philosophen, die sich an ethischen Prinzipien orientieren (und die meisten Philosophen machen das nicht einmal laut Untersuchungen, die der Psychologe Rolf Degen auf Twitter geteilt hat. Hier ein Beispiel).
  5. Den meisten Leuten ist das Ausmaß der Tierquälerei und die Art, wie Tiere das empfinden, nicht vollauf bewusst.
  6. Einige geben sich nur als Vegetarier/Veganer, weil das in ihren sozialen Zirkeln und bei vielen Frauen gut ankommt. Insgeheim essen sie weiterhin Fleisch. Moralisch ist das natürlich unterste Schublade.

Ich kenne Rationalisierungen auch von mir selbst in anderen Bereichen. Muss ich jetzt zum Training? Ne, zu müde, außerdem tue ich sonst ja genug.

Im Falle des Tierwohls habe ich mich vor allem durch die wissenschaftliche Forschung zur Frage gelesen, ob Tiere ein Bewusstsein haben. Ich habe einen ganzen Samstag nur damit verbracht, Studien darüber zu lesen, ob Fische bewusst Leid empfinden. Schließlich war wieder die Philosophie (Tierethik) an der Reihe, bei der mich schließlich die Ausführungen von Michael Huemer überzeugten, der auf alle erdenklichen Pro-Fleisch-Argumente eine Antwort hat (Research > Dialogues on Vegetarianism).

Am Ende war einfach kein Gegenargument mehr übrig. Und wenn jemand rational von etwas überzeugt ist, sollte er oder sie entsprechend handeln. Ich habe das entsprechend meines Kenntnisstandes umgesetzt. Zunächst aß ich noch Fleisch und achtete verstärkt auf das Tierwohl. Dann fand ich heraus, dass es in der Fleischproduktion so gut wie kein Tierwohl gibt, egal welche Sticker man auf Verpackungen klebt.

Dann war ich Ovo-Lakto-Vegetarier und achtete bei Eiern und Milch stark auf das Tierwohl. Dann fand ich heraus, dass es bei Eiern fast kein Tierwohl gibt (außer bei Zweinutzungsrassen, deren Eiern aber bei mir nicht verkauft werden) und jetzt begnüge ich mich mit Milch(produkten) mit höchsten Tierwohlstandards, damit ich mit wichtigen Nährstoffen nicht unterversorgt werde. Und auch die Milchprodukte könnten noch wegfallen, je nach meinem Wissen zum Thema.

Wer glaubt, dass es unethisch ist, Tieren Leid zuzufügen, wenn es nicht für Gesundheit und Leben des Menschen nötig ist, der sollte es nicht tun. Und so handhabe ich das jetzt. Ich warte weiterhin auf Gegenargumente statt auf stumpfe Vorwürfe, dass ich meine Meinung geändert hätte (ist das ein Vorwurf oder ein Lob?).