Der ethische Intuitionismus ist kein Mystizismus

Landschaft in Würzburg (Foto: Andreas Müller)

Meine neue Ethik ist eine Tugendethik auf Grundlage des revisionistischen ethischen Intuitionismus. Ein akademischer Philosoph wird ungefähr wissen, was es damit auf sich hat, denn das sind alles Fachbegriffe. Außerhalb der akademischen Philosophie allerdings lädt etwas mit der Bezeichnung „Intuitionismus“ zu Missverständnissen ein.

Das hier ist nicht mit dem revisionistischen ethischen Intuitionismus gemeint:

  1. „Man erkennt spontan moralische Wahrheiten dadurch, dass sich etwas für einen moralisch richtig anfühlt.“ Das ist keine Philosophie, sondern Mystizismus. Wie viele Philosophen schreiben in ihren Papern, dass sie Recht haben, weil es sich für sie so anfühlt, als ob sie Recht hätten? Was soll man auf so etwas antworten? Ich fühle aber spontan, dass Du Unrecht hast?
  2. Die Ethik des gesunden Menschenverstandes. Der Intuitionismus wurde tatsächlich von Philosophen wie W. D. Ross und H.A. Prichard in diesem Sinne verstanden. Der revisionistische ethische Intuitionismus ist allerdings offen dafür, ethische Intuitionen zu verwerfen, wenn sie auf Voreingenommenheiten beruhen. Wenn man das konsequent tut, kommt nicht unbedingt eine Ethik des einfachen Mannes oder des gesunden Menschenverstandes dabei heraus, wohl aber eine praktische, lebbare Ethik.

Was sind Intuitionen?

Intuitionen sind primäre intellektuelle Erscheinungen: Wenn man eine Aussage intellektuell erwägt, dann „erscheint“ sie einem spontan wahr zu sein, sobald man sie verstanden hat, aber bevor man Schlussfolgerungen aus Prämissen zieht, bevor man also darüber nachdenkt.

Beispiel: „1 ist weniger als 2“. Ich muss diese Aussage nur verstehen, damit sie mir wahr erscheint. Ich schließe sie aber nicht aus irgendwelchen Prämissen. Es handelt sich nicht um eine Schlussfolgerung, dass 1 weniger ist als 2. Sondern 1 ist eben einfach weniger als 2. So erscheint es mir, sobald ich die Aussage verstehe.

Und im Bereich der Ethik: „Babys foltern ist falsch.“ (Das Lieblingsbeispiel von Mike Huemer). Wieso ist es falsch? Es erscheint mir einfach falsch, ich schlussfolgere das nicht aus irgendwelchem Prämissen. Das heißt aber nicht, dass ich mir sicher sein kann, dass es sich um eine ethische Wahrheit handelt. Ich denke, es ist eine, aber nicht alleine darum, weil es sich intuitiv so anfühlt.

Wieso „revisionistisch“?

Generell: Wir können uns nicht sicher sein, dass unsere ethischen Intuitionen der objektiven ethischen Wahrheit entsprechen. Hier kommt der „revisionistische“ Aspekt hinzu. Denn unsere Intuitionen können durch eine ganze Reihe an Voreingenommenheiten geprägt werden. Es könnte einigen Männern intuitiv so erscheinen, als wären Frauen minderwertig, wenn sie in einer patriarchalen Gesellschaft sozialisiert wurden. Aber deshalb stimmt das noch lange nicht.

Wir müssen also herausfinden, welche unserer ethischen Intuitionen von verzerrenden Faktoren geprägt wurden und welche objektiv sind. Mir erscheint die ethische Aussage „Wir sollten keinen bewusst empfindenden Lebewesen Leid zufügen, wenn es nicht für höhere Werte wie unser Leben und unsere Gesundheit notwendig ist“, letztlich intuitiv wahr. Es handelt sich aber nicht um eine Basis-Intuition auf einer niedrigen Ebene wie „Leiden ist schlecht“, sondern um ein abstraktes ethisches Prinzip, bei dem ich darum bemüht war, es von kulturellen und sonstigen Voreingenommenheiten zu bereinigen.

Tut man das nicht, kann es eigentlich nur zu einem Krieg der Intuitionen kommen. Manchen Leuten erscheint es eben richtig, ihre Frauen herumzuscheuchen und anderen erscheint es richtig, Frauen als gleichberechtigte Partnerinnen zu behandeln. Manchen erscheint es richtig, Fleisch zu essen, und anderen falsch, abhängig von ihrer kulturellen Prägung durch die Fleischesserkultur in einem bayerischen Dorf oder durch die vegane Snobkultur hier in Hamburg.

Ohne Philosophie keine rationale Ethik

Natürlich würde ich mich niemals für Mystizismus oder für irgendeinen „Wir sollten auf unsere Gefühle hören“-Stumpfsinn aussprechen. So einfach funktioniert Ethik nicht. Wir müssen über unsere Intuitionen kritisch reflektieren, auch wenn Ethik letzten Endes eine intuitive Grundlage hat. Der Intuitionismus akzeptiert, dass man nicht vom Sein zum Sollen gelangen kann. Man ist gleich beim Sollen. Die Intuition ist das Sollen und die wird nicht aus einem Sein oder aus jeglichen Prämissen gefolgert. Da hört die philosophische Arbeit allerdings nicht auf. Das ist das metaethische Fundament der Ethik; das ethische Philosophieren fängt damit erst an.

Nicht nur müssen wir sehen, welche unserer Intuitionen objektiv und kein Ergebnis von Voreingenommenheiten sind, wir müssen auch abstrakte Prinzipien auf intuitiver Grundlage formulieren. Das macht es erforderlich, die Intuitionen durch Gedankenexperimente zu testen wie das „Kind im Teich“ von Peter Singer, das Trolley-Problem und viele weitere.

Es gibt keine Abkürzung, die einem das Philosophieren erspart. Es fällt mir im Traum nicht ein, den Leuten zu sagen, dass sie nicht nachdenken müssten und einfach die Wahrheit erfühlen könnten.

Literatur

Michael Huemer: Revisionary Intuitionism