Wir sollten nach unseren Möglichkeiten ethisch handeln

In einer Diskussion reagierte ein Kommentator empört auf eines meiner ethischen Prinzipien. Es lautet: „Wir sollten bewusst empfindenden Lebewesen nicht absichtlich Leid zufügen, sofern das nicht für höhere Werte wie Gesundheit und Leben des Menschen notwendig ist.“ Nun kann man dieses Prinzip gerne kritisieren, versuchen es präziser zu formulieren, Schwachpunkte und Missverständnisse aufzeigen. Doch die Reaktion hatte mit all dem nichts zu tun.

Vielmehr fühlte sich der Kommentator vor den Kopf gestoßen angesichts der Idee, dass „99,9“ Prozent der Menschheit sich moralisch grundlegend irren könnte. „Alle anderen sind Geisterfahrer, nur ich fahre auf der richtigen Spur“, soll meine Haltung bezeichnen. Nun, da ich die meiste Zeit meines Lebens Fleisch aus der Massentierhaltung gegessen habe, kann ich eine solche Haltung zumindest nicht mit stolzgeschwellter Brust vertreten, sondern allenfalls sehr demütig.

Der Vorwurf impliziert, dass niemand moralisch besser handeln sollte als die Mehrheit. Dann gäbe es nie moralischen Fortschritt. Und jeder, der etwas besser tut, wäre lediglich ein überheblicher Snob, weil er etwas besser tut. Das ist natürlich Blödsinn. Überheblich ist nur, wer moralisch gut handelt und dabei nicht beachtet, dass Moral kontextuell ist und somit nicht jeder auf dieselbe Art moralisch handeln kann.

Gesellschaften haben normalerweise Böses getan

Die Idee, dass eine ganze Gesellschaft systematisch moralisch nicht zu rechtfertigtende Grausamkeiten verüben könnte, scheint ausgerechnet einigen Deutschen vollkommen fremd zu sein. Da stellt sich die Frage, wie man die gesamte Schullaufbahn in Geschichte geschlafen haben kann. Zahlreiche Gesellschaften, wenn nicht so gut wie alle, haben moralisch systematisch verwerflich gehandelt. Wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß.

Man denke an die Sklaverei in den US-amerikanischen Südstaaten und an die Sklaverei so ziemlich überall auf der Welt zu allen Zeiten bis ins 19., teils 20. Jahrhundert hinein, einige Überbleibsel gibt es noch. Man denke an den Holocaust, an die Anschwärzung von Regimekritikern in der DDR, an die Unterdrückung von Frauen, Kinderarbeit, man denke an gängige Praktiken in der gesamten menschlichen Geschichte.

Natürlich ist es denkbar, dass auch wir als Gesellschaft etwas moralisch fundamental Falsches tun. Natürlich! Guten Morgen!

Man könnte es als verächtlich ansehen, dass Menschen nicht dafür bezahlt werden, Angehörige zu Hause zu pflegen, obwohl das auch Arbeit ist. Vielleicht sollten Hausfrauen oder Hausmänner für ihre Arbeit bezahlt werden. Vielleicht ist es ein Anzeichen von sozialer Krankheit, dass es auch nur einen zurückgelassenen Obdachlosen in unserer Gesellschaft gibt, der auf der Straße lebt.

Vielleicht war unser jahrelanger Handel mit Putins Regime – obwohl wir damals schon wussten, welche Verbrechen er verübt – in höchstem Maße unmoralisch. Vielleicht ist unser Handel mit China heute verwerflich. Vielleicht ist es falsch, dass die Deutschen statistisch in überwältigender Mehrheit nach rein egoistischen, wirtschaftlichen Erwägungen handeln, bar jeglicher Moral, und nicht bereit sind, auch nur ein bisschen materiell zu verzichten oder zu investieren für höhere Werte wie Tierwohl, Klimaschutz, freiwillige Wohlfahrt.

Vielleicht sind wir rücksichtslose Arschlöcher. Vielleicht sind wir alle Sünder und realisieren nur nicht, wie wir sündigen oder wir realisieren es, und ändern nichts daran. Weil wir rücksichtslose Arschlöcher sind.

Erkenne Dich selbst

Ich habe ja auf meinem Blog die Anekdote erzählt, dass eine Dame auf meine einstige Verteidigung von Fleischkonsum und Massentierhaltung damit reagierte, mich als „Psychopathen“ zu bezeichnen. Meine Reaktion auf den Vorwurf war es nicht, einfach beleidigt zu sein und das abzublocken. Gut, ich bin nicht wortwörtlich ein Psychopath, klar, aber ich könnte durchaus moralisch falsche Positionen vertreten, ohne es zu wissen. Wir Menschen neigen zur Rationalisierung, wenn es unseren egozentrischen Interessen dient. Also bin ich der Sache die vergangenen Jahre nachgegangen.

Und siehe da: Ich denke, dass wir tatsächlich das Tierwohl viel höher gewichten sollten, als wir es als Gesellschaft tun. Ich hatte lange auch mit der Frage gekämpft, ob das rein wirtschaftliche oder auch politische und schließlich auch individuelle Verhaltensänderungen nach sich ziehen müsste. Eine Weile lang war ich der Meinung, dass es nur Aufgabe der Politik sei, die Massentierhaltung humaner zu gestalten, weil Individuen damit überfordert sind. Michael Blume (der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg) hatte mir dann ein Buch von der Kantianerin Bettina Stangneth empfohlen, „Böses Denken“. Darin schreibt sie:

Ein radikal gutes Lebewesen würde jederzeit genau so handeln, wie es der eigenen Überzeugung und dem Wissensstand entspricht. Etwas erkannt zu haben bedeutete also umgehend eine Änderung des Verhaltens.

Bettina Stangneth: Böses Denken. S. 50.

Sie argumentiert, dass wir auch individuell die Verantwortung haben, durch unsere Konsumentscheidungen ethisch zu handeln. Das ist zwar äußerst schwierig – alleine schon, bei all den Siegeln und Tricks durchzublicken. Aber soweit wir dazu in der Lage sind, sollten wir diese Bürde auf uns nehmen.

Nun haben wir auch nicht die Möglichkeit und damit die Verantwortung, dieses Problem des Tierleids durch den Menschen alleine zu lösen. Wir können nicht konsequent sein, selbst wenn wir es möchten, denn tierische Produkte sind in zahlreichen Produkten zu finden, nicht nur in Lebensmitteln, und auch beim Anbau von Gemüse wird tierischer Dünger von Tieren aus der Massentierhaltung eingesetzt.

Und wir können auch nicht alle auf dieselbe Weise moralisch richtig handeln, weil Ethik kontextuell ist. Zumindest das ist eine wichtige Erkenntnis Ayn Rands. In Hamburg gibt es an jeder Straßenecke ein veganisches Restaurant, vegetarische und vegane Alternativen werden überall angeboten. Aber wer auf dem Land lebt oder in einer Kleinstadt, der müsste sich viel mehr anstrengen und viel mehr verzichten, wenn er sich vegetarisch oder vegan ernähren möchte. Was ist, wenn der Stahlarbeiter nach der Arbeit auf den Bus wartet und die einzige Nahrungsquelle in der Umgebung ist ein Dönerladen, der keine fleischlosen Alternativen anbietet?

Ethik ist absolut & kontextuell

Wir können nur erwarten, dass Menschen in dem Kontext, in dem sie sich befinden, nach ihren eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten moralisch richtig handeln.

Für manche ist Veganismus eine Option. Ich glaube nicht, dass es notwendig Heuchelei ist oder notwendig Snobbismus. Wer ein Ernährungsexperte ist und obendrein gut kochen kann, der könnte sich vielleicht vegan ernähren und mit der richtigen Dosis Nahrungsergänzungsmittel alle nötigen Nährstoffe aufnehmen.

Ich kann das nicht. Ich kann nicht einmal kochen. Ich werfe vegetarische Dinge in meine Pfanne und hoffe, dass das Ergebnis am Ende einigermaßen genießbar ist. Ich hatte erst noch Milch und Eier gegessen, dann aus Tierwohlgründen auch auf Eier verzichtet. Das führte zur Mangelernährung und ich nahm Nahrungsergänzungsmittel für Vegetarier ein. Doch diese haben dazu geführt, dass ich einen knurrenden Magen hatte, aber nichts essen konnte, weil ich mit Mikronährstoffen überfüllt war. Mir fehlt einfach die Ernährungskompetenz. Ich bin zu dumm, zu essen. Zu meiner Verteidigung: Ich habe meine Ernährung vor einer Weile grundlegend umgestellt, nicht nur zum Vegetarismus, sondern parallel auch mit Blick auf das Abnehmen. Und das ist einfach schwierig und viel auf einmal.

Inzwischen esse ich neben Milch und Käse auch wieder Fisch. Bei allen dieser Produkte achte ich auf die Tierwohlstandards. Ich halte es für elitär und gefährlich, von jedem zu verlangen, Veganer zu werden. Ebenso halte ich es für moralisch verwerflich, absolut gar nichts für das Tierwohl zu tun. Jeder sollte nach seinen Möglichkeiten eine Lösung finden, die für ihn oder sie funktioniert.

Ich habe gerade keine Energie mehr für weitere Ernährungsexperimente, ich halte meine Lösung erstmal für hinreichend in meinem persönlichen Kontext. Ich freue mich erstmal darüber, meine Kraft wieder zu spüren und zum Training gehen zu können. Und in meinem Kontext doch einiges für das Tierwohl zu tun.

Ergänzung: Ich sollte darauf hinweisen, dass die Ausführungen oben unter der Voraussetzung gelten, dass man dem ethischen Prinzip in der Einleitung zustimmt und sich daran orientiert: „Wir sollten bewusst empfindenden Lebewesen nicht absichtlich Leid zufügen, sofern das nicht für höhere Werte wie Gesundheit und Leben des Menschen notwendig ist.“ Es kann also sein, dass jemand aus gesundheitlichen Gründen oder zum Überleben bestimmte Tierprodukte und/oder Fleisch essen muss, aber niemand sollte das aus trivialen Gründen tun.