Nach meinem letzten Vortrag am 23.02.2023 über ChatGPT halte ich am nächsten Donnerstag um 18:00 Uhr schon den nächsten. Diesmal werde ich meine Kritik am Evolutionären Humanismus auf den Punkt bringen. Dazu hat mich die Hamburger Regionalgruppe der Giordano Bruno Stiftung eingeladen, die das reguläre Treffen „Hamburg Weltlich (Secular Talk)“ in einem Restaurant in der Nähe der Universität veranstaltet.
Wer Interesse hat, kann sich bei der Facebook-Gruppe anmelden. Letztes Mal war das Treffen sehr gut besucht und es gab eine lebhafte Diskussion. Hier möchte ich 3 mögliche Kritikpunkte vorwegnehmen.
Von der GBS-Regionalgruppe wurde mein Vortrag mit diesem Zitat von mir angeteasert:
„Die (Giordano Bruno) Stiftung verbreitet weiterhin ein irrationales Sammelsurium aus Ideen mit linksradikalen, biologistischen und antitheistischen Einflüssen.“
Ich denke, der Philosoph Daniel-Pascal Zorn hatte es gut auf den Punkt gebracht, als er mir schrieb, dass Ayn Rand (deren Weltanschauung ich lange teilte) anstelle von Philosophie „weltanschauliche Sätze“ produziert habe. Dasselbe denkt Zorn vom Kritischen Rationalismus nach Hans Albert und auch von der GBS. Ich befürchte, er hat in allen Fällen tendenziell Recht. Was Zorn übersieht ist, dass er meiner Wahrnehmung nach selbst eine dogmatische Ideologie vertritt, die man vage „Postmodernismus“ nennen könnte, und entsprechend auftritt.
Ergänzung: Daniel-Pascal Zorn bemerkt dazu Folgendes: „Ich vertrete keinen ‚Postmodernismus‘ und schon gar nicht als eine ‚dogmatische Ideologie‘.“ Wer mag, kann sich selbst auf Zorns Blog über seine philosophischen Positionen informieren: https://rechtfertigung.wordpress.com/
3 Kritikpunkte vorgweggenommen
Mir sind naheliegende Repliken auf meine Kritik oben eingefallen. Auf diese kann ich im Vorfeld schon antworten.
Antitheismus: „Der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Dr. Michael Schmidt-Salomon, will in den Medien nicht als “Chef-Atheist” auftreten. Auch sei er kein “militanter Atheist”, wie ihm oft vorgeworfen werde“ (hpd.de).
Biologismus: „Unter der Perspektive des „vernetzten Wissen“ wird deutlich, dass Biologismus und Kulturismus einander verstärkende Wahrnehmungsverzerrungen sind. Beide leiden unter dem gleichen Defizit, nämlich einer weitgehenden Ignoranz gegenüber der unaufhebbaren Verwobenheit von Natur und Kultur.“
„Wenn der „naturalistische Fehlschluss“ mit gutem Recht als unzulässig kritisiert wird, so muss man das Gleiche auch im Falle des „kulturistischen Fehlschlusses“ tun. Schließlich sind beide Fehlschlüsse hochgradig miteinander verwandt, ihr Unterschied liegt allein in der Umkehrung der logischen Fehlleistung: Besteht der „naturalistische Fehlschluss“ darin, dass aus einem (unterstellten) „Sein“ ein „Sollen“ abgeleitet wird, so wird im Falle des „kulturistischen Fehlschlusses“ aus einem „Sollen“ abgeleitet, was als adäquate Beschreibung des „Seins“ zu gelten hat.“ (MSS: Auf dem Weg zur Einheit des Wissens)
Linksradikalismus: „Das sage ich, obgleich ich mich selbst keineswegs als „Marxist“ bezeichnen würde. Ich halte es für hochgradig unsinnig und gefährlich, sich derart in seinem Denken und Handeln auf eine Person zu konzentrieren, dass man ihre Lehre zum „Ismus“ erheben kann.“ (MSS: Ich weiß nur dies, dass ich kein Marxist bin… Karl Marx und die Marxisten„.
Dem Anschein nach ist meine Kritik also einfach falsch. Jedenfalls, wenn man sie auf den Satz oben reduziert und meinen Essay nicht liest. Es sei denn, es gibt einen Graben zwischen dem, was MSS sagt, und dem, was er tatsächlich vertritt.
Linksradikalismus: „Was die RAF übersah“
Interessanterweise ist das, was MSS denkt und das, was die GBS denkt, identisch.
Das sollte jedem suspekt vorkommen. Erst recht nach dem (völlig berechtigten) Satz von MSS, wonach es unsinnig und gefährlich sei, sich in seinem Denken und Handeln derart auf eine Person zu konzentrieren, dass man ihre Lehre zum „Ismus“ erheben kann. MSS „befürchtete“ bekanntlich in seinem Buch „Jenseits von Gut und Böse“, jemand könne eine Religion aus seiner Weltanschauung machen.
Nun muss es jedem sofort klarwerden, der die Texte von MSS tatsächlich liest, dass er sich als Linker sieht, und zwar als sehr, sehr Linker.
Was die RAF übersah:
Michael Schmidt-Salomon: Aphorismen
Lachen tötet wirksamer als Sprengstoffattentate.
Hier kritisiert MSS zwar die Methoden der RAF, nicht aber ihre Ziele. Im Gegenteil scheint es für ihn etwas zu geben, was man „töten“ sollte, nur nicht mit Sprengstoff. Was sollen wir denn töten? Er wird vermutlich so etwas sagen wie, dass wir schlechte Ideen töten sollten. Aber warum dafür explizit auf die RAF, die Rote Armee Fraktion, Bezug nehmen, als hätte sie im Prinzip Recht, nur nicht mit ihrem Terrorismus?
Nicht jedes Ausbrechen aus der bürgerlichen,
Michael Schmidt-Salomon: Aphorismen
ist ein Aufbrechen in eine bessere Welt.
Nicht jeder, der gegen das Gesetz verstößt,
ist ein Kämpfer für mehr Gerechtigkeit.
Hier wird nahegelegt, dass das „Ausbrechen aus der bürgerlichen Welt“ ein gutes Ziel wäre. Warum nochmal ist das Ausbrechen aus der bürgerlichen Welt ein gutes Ziel?
Herrlicher Wandel der Zeiten!
Michael Schmidt-Salomon: Aphorismen
Der Hass ist verschwunden,
heute tötet die Freundlichkeit.
Die Unterdrücker sind verschwunden,
geblieben ist uns: die Unterdrückung
Welche Unterdrückung ist geblieben? Die Unterdrückung durch die herrschende Kapitalistenklasse? Oder welche sonst?
Nur der Unwissende glaubt,
Michael Schmidt-Salomon: Aphorismen
das Bürgerliche schon überwunden zu haben,
nur weil er schmutzige Finger hat
und mit Bachschen Fugen nichts anzufangen weiß.
Wir müssen das Bürgerliche über- und nicht
unterschreiten.
Warum sollten wir das Bürgerliche überschreiten? Und was ist die Alternative zur bürgerlichen, liberal-demokratischen Gesellschaft? Die Michael-Schmidt-Salomon-Diktatur? Der Kommunismus, den der Nicht-Marxist angeblich ablehnt? Was denn? Und warum schreibt er es nie explizit? Ist es ein Geheimnis, hat er etwas zu verbergen? Mir sagte er einmal: „Weißt du nicht, was wir hier erreichen wollen?“ Nö, weiß ich nicht, weil er es nicht offen ausspricht.
Ich will es schon gar nicht mehr wissen. Ich möchte nur feststellen: Was auch immer Michael Schmidt-Salomon erreichen möchte, ich möchte es nicht erreichen. Ich bin ein überzeugter Anhänger unserer freiheitlich-demokratischen „bürgerlichen“ Gesellschaft und ich will nichts anderes. Ja, man kann sie stets weiter verbessern, aber das ist ein typischer und prägender Aspekt der „bürgerlichen“ Gesellschaft.
Antitheismus: Die böse Kirsche
Wäre ich ein wüster Antitheist, würde ich als Pressesprecher einer Stiftung öffentlich auch behaupten, dass ich nicht einmal ein Atheist sei, sondern ein handzahmer Agnostiker, der Albert Schweitzer gut findet. Beziehungsweise: Würde ich nicht, weil ich immer genau das sage und schreibe, was ich tatsächlich denke. Ich schätze, ich habe den Vorteil, dass ich nichts Schlimmes denke, sondern ausgewogene und reflektierte Positionen vertrete. Und dass ich nicht insgeheim irgendetwas Mysteriöses „erreichen“ möchte.
Doch die GBS verbreitet die üblichen antitheistischen Mythen, die seit der französischen Aufklärung in bestimmten Kreisen Anklang finden, heute noch. Paradebeispiel hierfür ist die Broschüre „Die Legende vom christlichen Abendland„, die Rolf Bergmeier für die GBS verfasste. Er repliziert unter anderem die „Konfliktthese“ von John William Draper und Andrew Dickson White aus dem 19. Jahrhundert, wonach es einen historischen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft gegeben habe. Diese gilt seit über einem halben Jahrhundert als widerlegt in der historischen Forschung.
Das Christentum tritt in diesem Geschichtsbild als hinderliche Unterbrechung der antiken Hochkultur auf, die erst mit der Renaissance (es gab keine Renaissance als Epoche, es handelt sich um eine Kunstströmung!) und vor allem mit der Aufklärung überwunden wurde. Dieses Geschichtsbild ist falsch. Keine Interpretationssache, es widerspricht unserem heutigen historischen Wissen. Es widerspricht dem, was die Mainstream-Geschichtsforschung sagt.
Das Christentum war nicht der Grund für das Ende der Antike, sondern der größtenteils wirtschaftlich bedingte Niedergang Roms. Das große Reich war wirtschaftlich-bürokratisch nicht mehr verwaltbar. Ostrom allerdings hielt sich bekanntlich noch 500 Jahre länger. Und es gab auch im Westen keinen plötzlichen Zusammenbruch Roms, sondern eine Dezentralisierung. Wir haben den Übergang von einem Großreich zu Fürstentümern.
Das Christentum bewahrte einige der wichtigsten Schriften der Antike. Wir wissen nur von diesen, weil christliche Mönche über zahlreiche Generationen, jahrhundertelang kopierten. Wir verdanken das antike Erbe in erster Linie christlichen Mönchen. Daran besteht überhaupt kein Zweifel außerhalb der antitheistischen Paralleldimension. Doch laut der GBS-Schrift sollen die antiken Schriften erst im 13. Jahrhundert dank der „arabischen“ (die sie nicht „muslimisch“ nennen möchten) Hochkultur nach Europa gekommen sein, dann startete sogleich „die Renaissance“.
In der märchenhaften Version der Geschichte, die von diesen Polemikern verwendet wird, waren die Griechen und Römer weise und rational und wissenschaftlich und am Rande einer wissenschaftlichen und industriellen Revolution, bis die bösen Christen auftauchten, fast ihr gesamtes Wissen zerstörten und uns in ein dunkles Zeitalter stürzten.Tim O’Neill: The Great Myths 8: The Loss of Ancient Learning
Das Wenige, das wir an griechisch-römischem Wissen haben, überlebte diesen Holocaust der Unwissenheit durch Zufall, hauptsächlich dank arabischer Gelehrter, die diese Fragmente aufbewahrten, bis sie von den wunderbaren Rationalisten der Renaissance vor der mittelalterlichen Unwissenheit gerettet werden konnten. Wie üblich ist dieses einfache und hübsche Bild fast völliger Unsinn.
Ein Beispiel: Anicius Manlius Severinus Boethius (480 – 526 n. Chr.) gilt als der „wichtigste Vermittler der griechischen Logik, Mathematik und Musiktheorie an die lateinischsprachige Welt des Mittelalters bis ins 12. Jahrhundert“, was jeder einfach auf Wikipedia nachlesen könnte. Doch selbst Wikipedia ist schon eine zu seriöse Quelle für die antitheistischen Mythologen. Boethius übersetzte unter anderem Bücher von Aristoteles. Obwohl doch Aristoteles erst über die Araber im 13. Jahrhundert in die christliche Welt Einzug gefunden haben soll.
Mehr dazu: Tim O’Neill: The Loss of Ancient Learning.
Besonders widerlich: „Eine Kultur, die tausend Jahre lang der Sexualität ihren natürlichen Lauf ließ, die die Schönheit in Marmor meißelte, fällt zurück in freudlose Finsternis.“ Der männlichen Sexualität der Herrscher hat die Antike ihren „natürlichen Lauf“ gelassen, etwa bei der beliebigen Nutzung von kleinen Jungs und Sklavinnen für das sexuelle Vergnügen, während die Ehefrau in Rom zeitweise nicht einmal einen Vornamen hatte, sondern zum Hausbesitz gezählt wurde. Eine abstoßende Verklärung einer brutalen Sklavenhaltergesellschaft, die auch Frauen massiv unterdrückte.
Ich weiß, dass an anderer Stelle in der Schrift die antiken Sklavenhaltergesellschaften kritisiert werden. Das ist das übliche manipulative Spielchen: Man schafft sich die Option, sich wieder herauszureden aus dem, was man an anderer Stelle aussagt. Wer’s glaubt, wird selig.
(„Die böse Kirsche“ ist ein sarkastischer Slogan von Geschichtsfenster, der damit den Mythos über die böse, allmächtige Kirche des Mittelalters aufs Korn nimmt).
Biologismus: Naturalisten ohne naturalistische Ethik?
Offenbar ist die metaethische Grundlage „der Ethik“ von MSS sein willkürliches Dogma, das er „Humanistische Basis-Setzung“ nennt. Das Münchhausen-Trilemma scheint eine Letztbegründung der Ethik unmöglich zu machen, wie MSS an derselben Stelle schreibt, aber er dachte sich trotzdem eine aus und setzte sie als „Axiom“ in die Welt. Als würde ein Dogma das Problem lösen, dass es laut dem radikalen Skeptizismus von Hans Albert keine Letztbegründung geben kann. Als Religionskritiker, der an Dogmen herumnörgelt, kann man nicht mehr absurder und unverschämter auf dieses Problem reagieren.
Insgesamt scheint MSS mindestens vier verschiedene Ethiken zugleich zu vertreten.
Die frohe Botschaft des aufgeklärten Hedonismus:
Michael Schmidt-Salomon: Aphorismen
Genieße den Rausch,
es ist nicht vernünftig, immer vernünftig zu sein.
(Evolutionäre Humanisten) haben begriffen, dass es sinnlos ist, den Eigennutz, das Grundprinzip des Lebens und damit auch die Quelle aller Kreativität, Freundschaft und Liebe, bekämpfen zu wollen. Deshalb konzentrieren sie sich auf die gesellschaftlichen Spielregeln, die jenseits aller biologischen Verhaltenspräferenzen dafür verantwortlich sind, welche Gestalt der Eigennutz im sozialen Miteinander annimmt.
MSS: Manifest des Evolutionären Humanismus
Ethik ist der Versuch, die unter Menschen unweigerlich auftretenden Interessenkonflikte so zu lösen, dass alle Betroffenen diese Lösung als möglichst fair erachten.
MSS: Manifest des Evolutionären Humanismus
Nicht, dass die Lösung fair ist, sondern dass sie als fair erachtet wird. Eine Sklavin im alten Rom hätte sicher einen Herrn als fairer erachtet, der sie nur zweimal am Tag vergewaltigt statt zehnmal. Viertens unterstützt die GBS den „Effektiven Altruismus“ und die „Grundrechte für Menschenaffen„, die altruistisch begründet sind.
In Zitat 1 ist MSS ein Hedonist, in Zitat 2 ist er ein Egoist, in Zitat 3 teilt er den Präferenzutilitarismus von Peter Singer und nach 4. ist er ein Altruist. Das sind fundamental unterschiedliche Ethiken. Begründet wird keine davon.
Nun bleibt MSS stets dabei, jedenfalls verbal den „Naturalismus“ zu vertreten. Und der Naturalismus begeht eben jenen Sein-Sollen-Fehlschluss, den MSS im Zitat weiter oben und an anderen Stellen kritisiert: Die Ableitung einer Ethik aus empirischen Beobachtungen oder aus der „Natur“. Wenn er keine Normen aus der Natur ableitet, dann ist MSS kein Naturalist. Denn er muss an irgendeine andere Quelle der Ethik glauben, die nicht die Natur ist.
Darum sprach ich im zugespitzten Zitat am Anfang von einem „irrationalen Sammelsurium“ an Ideen. Im Kern bin ich der Meinung, dass der Evolutionäre Humanismus dasselbe ist wie das persönliche Weltbild von Michael Schmidt-Salomon, das er aus verschiedenen Büchern und sonstigen Quellen im Laufe seines Lebens zusammengeworfen hat. Schön, wenn er damit zufrieden und glücklich ist. Ich sehe keinen Grund, warum irgendwer sonst sein Weltbild teilen sollte und warum es eine Organisation für die Verbreitung seines Weltbilds braucht.
Übrigens haben der Evolutionäre Humanismus und Ayn Rands Objektivismus noch etwas gemeinsam, abseits der Produktion von Dogmen und beliebigen weltanschaulichen Sätzen: Sie wurden nur wenig in der wissenschaftlichen Fachliteratur rezipiert. Auf der Diskussionsseite zur Wikipediaseite zum Manifest des Evolutionären Humanismus heißt es: „(G)ibt es eine nennenswerte „Außenwahrnehmung“ jenseits von einigen Rezensionen?“. Und abseits einer gewissen populären Rezeption im Fernsehen und Zeitschriften sowie einer Rezeption in säkular-humanistischen Publikationen gibt es diese meines Wissens nicht. Wissenschaftler und Philosophen interessiert der Evolutionäre Humanismus sogar noch deutlich weniger als der Objektivismus.
Und das hat einen Grund: Warum sollten sich Akademiker für das persönliche Weltbild von Ayn Rand oder für das persönliche Weltbild von Michael Schmidt-Salomon interessieren? Bei Ayn Rand kann man immerhin noch ihre historische Bedeutung für die (eher unrühmliche) Entwicklung des US-amerikanischen Rechtslibertarismus anführen.