Viele Menschen werfen „Harry Potter“-Autorin J.K. Rowling Transphobie vor. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die sie gegen die Anschuldigungen verteidigen. So veröffentlichte etwa die The New York Times einen Kommentar mit dem Titel In Defense of J.K. Rowling. Ist Rowling vielmehr Opfer eines „Hexenprozesses“, wie es der Titel eines neuen Podcasts über sie nahelegt? Nur das neueste Ziel des intoleranten Woke-Mobs?
Rowling nimmt in mehreren Äußerungen Transmenschen in Schutz, engagiert sich in anderen Bereichen für Minderheiten und wird von gewalttätigen Fanatikern bedroht. So könnte man leicht auf die Idee kommen, sie würde zu Unrecht verurteilt werden. Dass sich einige der Schauspieler der „Harry Potter“-Filme von ihr distanzierten, wirkte ein Stück weit undankbar, wo sie doch der Frau ihre Karriere verdanken. Einige Trans-Aktivisten haben sogar „Harry Potter“-Bücher verbrannt, was sie nicht gerade sympathisch wirken lässt.
Doch nach einer langen und anstrengenden Analyse bin ich zum Schluss gelangt, dass Rowlings Kritiker tatsächlich Recht haben.
„Transmenschen brauchen und verdienen Schutz“, „Ich möchte, dass Transfrauen sicher sind“. Mit Stellungnahmen dieser Art wendet Rowling den Verdacht von sich ab, transphob zu sein. Doch es war die vierte Episode des Podcasts The Witch Trials of J.K. Rowling, in dem die Autorin ausführlich interviewt wird, die mich letztlich überzeugte, dass ihre Kritiker Recht haben.
Die Angst vor Männern
Ja, ein bisschen spät. Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben, denn ihr Werk verleitete mich schließlich zu meinem Buch Terry Rotter und das Feuer der Freiheit, mit dem ich wahnsinnig viel Spaß hatte (auch wenn ich mich damit über ihr Werk lustig mache). Außerdem versteht es Rowling sehr gut, den Verdacht mit widersprüchlichen Aussagen von sich abzulenken. Neben Rowlings Aussagen im Podcast war es auch ihr von Angst geprägter Tonfall und wie sie verzweifelt nach Rechtfertigungen für ihre Angst suchte, der dies deutlich machte.
Aber mir ist auch bewusst, dass 98 bis 99 Prozent der Sexualdelikte von Menschen verursacht werden, die mit Penissen geboren wurden. Das Problem ist männliche Gewalt. Alles, was ein Raubtier will, ist Zugang und die Türen von Umkleidekabinen oder… Zentren für häusliche Gewalt zu öffnen, um die Türen für jeden Mann zu öffnen, der sagt: „Ich bin eine Frau und ich habe das Recht, hier zu sein.“ Das wird ein Risiko für Frauen und Mädchen darstellen.
J.K. Rowling: The Witch Trials of J.K. Rowling, Folge 4
Ich halte das für die Aussage einer Frau, die sich vor Männern generell fürchtet, und hier spezifisch vor „Männern in Frauenkleidern“. Der Anlass ist die Gewalt, die Rowling durch ihren ersten Ehemann erfahren hatte. Es gibt, soweit ich es herausfinden konnte, keine empirischen Belege dafür, dass Transmenschen Frauen in Frauenumkleiden oder Frauentoiletten sexuell belästigen (UCLA-Studie via NBC News). Vielmehr gibt es Belege dafür, dass Transfrauen in Herrentoiletten und -umkleiden belästigt werden (American Academy of Pediatrics-Studie). Das heißt, Transfrauen wären sicherer in Frauenumkleiden und -toiletten, was der Grund ist, warum sie darauf Zugriff haben möchten.
Generell halte ich die ganze Toilettengeschichte für komplett übertrieben. Laut meiner Lebenserfahrung gibt es manchmal sowieso nur eine Toilette für beide Geschlechter in Restaurants oder Frauen nutzen die Herrentoilette, weil zu viele Frauen die Damentoilette beanspruchen. Umkleiden in Schulen sind nach Geschlechtern getrennt, aber eine Transfrau unter vielen Damen wird sich kaum daneben verhalten können.
Auf Twitter schreibt Rowling wiederholt über einen Fall in Schottland, bei dem ein männlicher Vergewaltiger in ein Frauengefängnis gebracht wurde, nachdem er behauptete, er habe das Geschlecht gewechselt. Es ist eine denkbar blöde Idee, einen Vergewaltiger zu einem Ort mit vielen potenziellen Opfern zu bringen. Es ist allerdings nicht offensichtlich, dass echte Transfrauen generell in Männergefängnisse gehören, wo sie selbst überaus gefährdet sein dürften.
Was Rowling außerdem verrät, ist der einseitige Fokus ihrer Tweets zum Thema. Es geht so gut wie immer um Transmenschen als erwiesene oder potenzielle Verbrecher, um die vermeintliche Gefahr, die sie darstellen. Es geht so gut wie nie darum, dass Transmenschen schutzbedürftig sind und um ihre Rechte.
Transmenschen als Sündenböcke
Ich finde, einer der besten Kommentare zum Thema stammt von einer Transfrau, Kai Cheng Thom bei The Globe and Mail. Und nicht darum, weil eine Transfrau ihn geschrieben hat, sondern weil sie mit Statistiken argumentiert. Die verraten nämlich viel mehr über die Realität als Anekdoten. 50 Prozent der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch, bei denen das Kind unter sechs Jahre alt ist, finden in den USA in der Herkunftsfamilie des Kindes statt. Rund 93 Prozent der Fälle von Kindesmissbrauch werden durch einen Erwachsenen verübt, den das Kind oder dessen Familie kennt. In 80 Prozent der Fälle von sexuellem Missbrauch allgemein in Kanada kennt der Beschuldigte das Opfer.
In Deutschland, und generell in westlichen Nationen, sehen die Zahlen ähnlich aus. Sexueller Missbrauch wird stark überwiegend im Familien- und Freundeskreis verübt. Außerdem in Institutionen (Stichwort katholische Kirche, aber auch in staatlichen Institutionen). Das ist die kriminalstatistische Wahrheit. Darauf habe ich bereits in meinen älteren Beiträgen hingewiesen, in denen ich mich kritisch mit einer irrationalen Variante des Feminismus befasst hatte.
Frauen sollten sich eher vor den Leuten bei ihnen zu Hause fürchten als vor den Leuten auf ihrem Nachhauseweg. Fremde, die draußen in der Öffentlichkeit herumlaufen, vergewaltigen extrem selten Frauen. Das geschieht viel häufiger im Freundeskreis beim nächtlichen, betrunkenen Discobesuch. Fremde missbrauchen, abseits von Institutionen, auch extrem selten Kinder. Das machen eher Väter, der Onkel, der Großvater, generell die Männer im familiären Umfeld.
In Zeiten sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheit sucht sich die Gesellschaft gerne kleine, gut sichbare Minderheiten als Sündenböcke aus. Früher traf es Juden, Schwarze und Atheisten, heute Transmenschen.
Die Leute sollten sich einen moralischen Code besorgen, der es ihnen verbietet, plötzlich durchzudrehen und irrationale Positionen zu vertreten. Jeder darf Angst empfinden in unsicheren Zeiten. Und jeder darf sich mal irren. Aber man sollte sich nicht seiner Angst ergeben wie etwa die Querdenker und wie selbst eine in Wohlstand und Sicherheit lebende Person wie J.K. Rowling.
J.K. Rowling müsste es besser wissen
Immerhin kann man Rowling ihr Engagement für ihre wohltätige Organisation Lumos zugutehalten sowie für die Rechte von Frauen im Iran und in anderen islamischen Tyranneien. Ironischerweise ist besonders Lumos außergewöhnlich scharfsinnig und legt den Finger in eine gesellschaftliche Wunde. Die Organisation setzt sich gegen die Unterbringung von Kindern in Waisenhäusern und ähnlichen Institutionen ein, und für die Unterbringung von Kindern bei (vorzugsweise ihren eigenen) Familien, wo sie vergleichsweise sicherer sind.
Tatsächlich sind Kinder in Institutionen viel gefährdeter als in ihren Familien. Dort haben Fremde nämlich die Gelegenheit, sie zu missbrauchen, ohne dass ihnen andere Familienangehörige auf die Finger schauen können. Gelegenheit haben Täter zwar auch in Familien (wie oben geschrieben, findet sexueller Missbrauch überwiegend im Familien- und Freundeskreis statt), aber in Institutionen haben sie die Gelegenheit und sie müssen weniger Folgen befürchten.
Scharfsinnig ist auch Rowlings Darstellung der Sklaverei in Hogwarts, Stichwort Hauselfen. Sie halten sich nicht für versklavt und haben sich eingeredet, sie würden gerne für ihre Herren arbeiten. Nur Hermine und ihre kleine Organisation Hauselfen Befreiungsfront erkennen, dass sich die Hauselfen das nur aus Selbstschutz einreden.
Dass jemand, der all diese Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen so genau kennt, ihre eigenen Vorurteile gegenüber einer Menschengruppe nicht erkennen sollte, ist bemerkenswert. Wie Rowling meinte, ist ihr die Mangelhaftigkeit des Wesens Mensch bekannt und sie schließt sich selbst nicht davon aus. Dazu hat sie leider auch keinen Anlass.