Schmidt-Salomon versus Andreas Müller

Es gab bereits einige Debatten zwischen Michael Schmidt-Salomon, dem Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung (Denkfabrik der Aufklärung) und Andreas Müller (Autor des Feuerbringer-Magazins). Die aktuellste Debatte enthält die wichtigsten Streitpunkte. Ihr ging ein kritischer Beitrag von Andreas Müller über das Verhältnis von Schmidt-Salomon und dem australischen Philosophen Peter Singer voraus:

Schmidt-Salomon hat Singer nie verstanden

Michael Schmidt-Salomon von der Giordano Bruno Stiftung hat Peter Singers Philosophie nie verstanden. Das ist spätestens jetzt deutlich geworden, als er seine geplante Laudatio für den australischen Philosophen bei der Verleihung eines Tierschutzpreises abgesagt hat.

„In dieser Situation muss ich die Reißleine ziehen, denn ich kann keine Laudatio auf einen Preisträger halten, bei dem ich nicht einschätzen kann, welche Positionen er tatsächlich vertritt.”

Das schreibt MSS beim Humanistischen Pressedienst. Nun muss man wissen: Peter Singer ist ein systematischer Ethiker. Darum sind seine Positionen logisch verknüpft. Konkrete Stellungnahmen lassen sich leicht antizipieren, wenn man Singers Prämissen kennt, sofern man seinen Präferenzutilitarismus verstanden hat. Singer vertritt heute keine anderen Positionen als zuvor – er vertritt seine kollektivistische, altruistische Ethik inzwischen lediglich ein Stückchen konsequenter, als er manchmal den Eindruck erweckte. Überraschen kann dabei allerdings gar nichts.

Utilitarismus versus Menschenrechte

Zunächst glaubt Peter Singer als Utilitarist keineswegs an unumstößliche Menschenrechte. Das hat er auch nie getan, was ich spätestens in meinem Artikel “Einladung zur Selbstzerstörung” bei NovoArgumente, in dem ich Singers Ethik kritisiere, klar aufgezeigt habe. Das ist nichts Neues, das ist in seinem Utilitarismus inhärent angelegt – und im Übrigen glaubt MSS selbst auch nicht an unumstößliche Menschenrechte, sonst würde er das Eigentum anderer Menschen nicht noch mehr umverteilen wollen. Allerdings ist MSS kein systematischer Denker. Er weiß kurz gesagt gar nicht genau, was er denkt. Er lässt sich eher von seinem “Mitgefühl” leiten, das er ständig betont. Singer weiß hingegen genau, was er denkt. Das spricht immerhin für ihn, aber leider ist das, was er denkt, absolut furchtbar.

Als „nicht minder verstörend“ bezeichnete Schmidt-Salomon Peter Singers Antwort auf die NZZ-Frage: „Würden Sie so weit gehen, ein Baby zu foltern, wenn es der ganzen Menschheit dauerhaftes Glück verschafft?“ Singer hatte darauf geantwortet: „Ich wäre vielleicht nicht in der Lage, das zu tun, weil ich durch meine evolutionär entwickelte Natur Kinder vor Schaden bewahren will. Aber richtig wäre es. Denn wenn ich es nicht täte, würden in der Zukunft Tausende Kinder gequält.“

„Das klingt so, als wolle Peter Singer ein weiteres Menschenrecht, nämlich den Schutz vor Folter, zur Disposition stellen“, erklärte Schmidt-Salomon.

Peter Singer glaubt nicht an Menschenrechte, Michael! Natürlich will er das zur Disposition stellen, das hat er doch bereits in Praktische Ethik, seinem Hauptwerk, getan:

„Ich bin nicht überzeugt davon, dass der Begriff eines moralischen Rechts hilfreich oder sinnvoll ist, außer man verwendet ihn als Kürzel, um auf fundamentalere moralische Erwägungen zu verweisen“ (Peter Singer inPraktische Ethik, siehe Einladung zur Selbstzerstörung für Quellenangabe)

Und was sind die fundamentaleren moralischen Erwägungen als die Menschenrechte (und die individuellen Rechte auf den Schutz von Leben, Freiheit, Eigentum) für Singer? Um mich ausnahmsweise selbst zu zitieren:

Diese fundamentaleren Erwägungen laufen auf den Präferenz-Utilitarismus hinaus: Jene Idee, man solle seine Handlungen daran ausrichten, „das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern.“ Wir haben also laut Singer nur Rechte, sofern und soweit sie mit diesem grundlegenderen Ziel der Ethik vereinbar sind.

Wie kannst du Singer einen Ethikpreis verleihen, ohne seine Ethik verstanden zu haben, Michael? Wofür genau ist denn der Preis gewesen? Für das, was du selbst gut findest und Singer einfach unterstellt hast?

Auf den Einwand der Interviewerin Nina Streeck, durch eine weitere Verbreitung der Sterbehilfe „könnte Druck auf alte Menschen entstehen, sich selbst das Leben zu nehmen“, antwortete Singer: „Das kann passieren. Empfindet sich jemand als Belastung für seine Familie, ist es nicht unbedingt unvernünftig, dass er sein Leben beendet. Wenn seine Lebensqualität eher schlecht ist und er sieht, wie seine Tochter viel Zeit aufwendet, um sich um ihn zu kümmern, und dabei ihre Karriere vernachlässigt, dann ist es vernünftig, ihr nicht weiter zur Last fallen zu wollen.“

„Ich hätte von Peter Singer eine deutlich andere Antwort erwartet“, sagte Schmidt-Salomon.

Ich nicht. Und ich muss Singer insofern einen gewissen intellektuellen Respekt zollen, als er wirklich die letzten bitteren Schlüsse aus seinen Prämissen zieht und sie offen ausspricht. Seine Ethik ist eine unmenschliche Absurdität. Immerhin ist er intellektuell aufrichtig. Selbstverständlich erlaubt Singers Utilitarismus – ja er fordert – eine Aufrechnung von Interessen. Der Utilitarismus ist die Ethik, die besagt: “Bedürfnisse Vieler sind wichtiger als die Bedürfnisse Weniger oder eines Einzigen.” (Spock aus Raumschiff Enterprise). Und wenn die Bedürfnisse vieler durch die Ermordung oder den Selbstmord eines Einzigen besser erfüllt werden können – so sei es, sagt der konsequente Utilitarist.

Einladung zur Selbstaufopferung

Das Schockierende daran ist nur, dass es Schmidt-Salomon schockiert. (Gut, die Aussage selbst ist für diejenigen, die Singers Ethik nicht kennen, berechtigterweise auch schockierend. Wer sie schon kennt, hat den Schock hinter sich und Singers Ethik verworfen).

Schmidt-Salomon erinnerte in diesem Zusammenhang an ein Interview, das er bereits vor eineinhalb Wochen dem Humanistischen Pressedienst gegeben hat. Schon in diesem Interview hatte er angemerkt, dass es doch wohl nicht im Sinn des von Peter Singer propagierten „effektiven Altruismus“ sein könne, die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft aufzukündigen, um mehr Hilfsbedürftige in anderen Teilen der Welt zu retten.

Michael! Du unterstützt mit deiner Stiftung den Effektiven Altruismus! Wie kann es bitte sein, dass du bezweifelst, dass bei dieser Ethik, wie ich aufgezeigt habe, genau das herauskommt! Es geht um die größtmögliche Vermeidung von Leid insgesamt aller empfindungsfähigen Wesen auf der ganzen Welt. Also, wie Singer logisch folgert, ist unser Geld besser bei denjenigen angelegt, denen man damit möglichst effizient helfen kann. In unserem Wohlfahrtsstaat ist Solidarität mit Armen weniger erforderlich. Mit wenig Geld lässt sich in der Dritten Welt mehr ausrichten als hier mit viel Geld. Also sollten wir unser Geld in die Dritte Welt verspenden. Das ist durchaus logisch, akzeptiert man Singers Prämissen. Es ist ethisch falsch und ich akzeptiere seine Prämissen nicht – aber es ist eine logische Folge, wenn man es tut.

die finanziellen Ressourcen nach ihrem Einsatz keineswegs aus der Welt verschwunden seien, sondern bloß bei anderen Marktteilnehmern landen würden, die sie wieder einsetzen könnten – nicht zuletzt auch zu altruistischen Zwecken.

Das ist so ein typisch linker Aberglaube, den MSS hier ausspricht. Die Idee, dass Geld einfach aus dem Nichts magisch erschaffen wird. Man kann irgendwem Geld geben und der kann es dann wieder anderen geben (“zu altruistischen Zwecken”). Geld muss nie durch die Erschaffung von Werten erzeugt werden. Also kann man auch die Konditionen zerstören, die die Werterschaffung ermöglichen – den Kapitalismus. Und darunter das Eigentumsrecht, an das MSS ja nicht glaubt.

„Indem Peter Singer dazu aufruft, die notwendigen Ressourcen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der Dritten Welt ausgerechnet aus den spärlichen Mitteln zur Unterstützung von alten, kranken und behinderten Menschen zu schöpfen, legitimiert er einen Solidaritätsbruch mit jenen Gesellschaftsmitgliedern, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen.

Aber keineswegs. Die Gesellschaftsmitglieder, die unsere Hilfe am dringlichsten benötigen, sind laut Singer verhungernde Kinder in der Dritten Welt und irgendwelche Affen. Das haben Singer und deine Stiftung und andere Stiftungen ganz genau für uns alle ausgerechnet! Dafür werbt ihr weiterhin mit Eurer Unterstützung des Effektiven Altruismus.

Denn er weiß nicht, was er tut

Weißt du, ich habe die meiste Zeit über gedacht, Michael, dass du genau weißt, was du da tust und welche Ideen du da befürwortest. Schließlich bezeichnest du dich als “freischaffenden Philosophen”. Jetzt ist endlich klar, dass du das gar nicht weißt und auf einer fundamentalen Ebene nicht verstehst, wie Philosophie funktioniert. Du unterstützt irgendwelche Initiativen, weil sie einfach gut klingen, sich gut anfühlen, mit deinem Mitgefühl harmonieren. Wie Ideen zusammenhängen und aufeinander aufbauen, ist dir nicht klar. Einerseits spricht das gegen dich, weil du trotz deines mangelnden Verständnisses mit Stiftungsgeldern hantierst und irgendwelche “netten”, “humanistischen” Aktionen unterstützt. Wobei man auch einräumen muss, dass dir irgendwer freiwillig diese Gelder gibt (bzw. einen größeren Einfluss über deren Verwendungszweck).

Andererseits spricht es für dich. Nimmt man nämlich an, dass du weißt, was du tust, dann kommt man irgendwann zu Schlussfolgerungen bezüglich deines Charakters, die nicht jedem gefallen dürften. Du erzählst in deinen Büchern den Menschen, dass sie keinen freien Willen haben, dass sie durch unbegreifliche Faktoren bestimmt werden. Du erzählst ihnen, dass man niemanden moralisch verurteilen soll. Du erzählst ihnen, dass ihr Geld nicht ihnen gehört, sondern dass es von anderen Menschen für einen “guten Zweck” umverteilt werden darf. Diese Ideen sind dazu geeignet, die Seelen der Menschen zu zerbrechen. Wäre ich ein Möchtegern-Diktator, der sich ein Sklavenheer erschaffen will, ich würde den Menschen genau das erzählen.

Ich würde den potenziellen Sklaven erzählen, dass sie keinen freien Willen haben und also ihr Leben nicht selbst bestimmen (sondern ihr Herr!). Ich würde ihnen erzählen, dass sie nicht moralisch urteilen sollen (weil sie sonst ihren Herrn moralisch verurteilen würden!). Ich würde ihnen erzählen, dass sie keine unanfechtbaren Rechte haben, die sie zum Leben brauchen, wie das Eigentumsrecht (weil ihr Leben nicht ihnen gehört, sondern ihrem Herrn!). Beurteilt auf Grundlage der Einschätzung, dass du weißt, was du predigst, wärst du ein moralisches Monster, Michael. Nichts für ungut.

Aber du weißt nicht, wovon du redest. Das nimmt einen Ballast von meiner (nicht übernatürlichen) Seele. Du bist gar kein moralisches Monster. Du bist nur ein normaler Mensch, der in eine Position geraten ist, die Fähigkeiten erfordern würde, die du einfach nicht hast. Vielleicht hättest du doch nicht so viele Philosophen und Philosophie-Kundigen (Edgar Dahl, Norbert Hoerster und mich) aus deiner Stiftung – nun, sagen wir, nicht haben wollen -, weil sie dir politisch nicht ganz passen. Von wegen Toleranz, im Übrigen. Irgendwer sollte in einer Denkfabrik am Ende nämlich denken können. Jetzt siehst du hoffentlich, warum.

Am Ende möchte ich mich allerdings Schmidt-Salomon bei der Aufforderung anschließen, keine Hexenjagd auf Peter Singer zu veranstalten. Wir müssen jetzt zeigen, dass wir im Gegensatz zu ihm sehr wohl an unanfechtbare Menschenrechte, darunter die Meinungsfreiheit, glauben – insbesondere von Menschen, mit denen wir nicht übereinstimmen.

Siehe auch meine zweite Kritik an u.a. Singer für seine Tierethik: Tiere haben keine Rechte

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Schmidt-Salomon vs. Andreas Müller

Die folgende Debatte fand im Anschluss an den Beitrag oben statt.

Michael Schmidt-Salomon: 

Lieber Andreas,

manche Aspekte deines Artikel sind richtig, andere jedoch völlig falsch. So hast du offenbar nicht mitbekommen, dass sich der Utilitarismus seit Bentham, der die Proklamierung von Menschenrechten tatsächlich als völligen Unsinn betrachtete, stark weiterentwickelt hat. Tatsächlich gibt es inzwischen sehr gute utilitaristische Argumente pro Menschenrechte, da es zum größtmöglichen Nutzen aller ist, wenn unverbrüchliche Rechte für jedes Individuum definiert werden und auch eingeklagt werden können. Zu diesem Thema gibt es so viele Arbeiten, dass es wirklich erstaunlich ist, dass du bei deinen philosophischen Studien nicht darüber gestoßen bist.

Ich habe bereits im “Manifest des evolutionären Humanismus” einige Anschauungen Singers deutlich kritisiert. Zur Vergabe des gbs-Preises an ihn und Paola Cavalieri habe ich diese kritischen Punkte wiederholt, siehe http://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/diskutieren-statt-diffamieren

Man könnte mir vorwerfen, dass ich die kritischen Aspekte in Singers Philosophie allzu lange zu wohlwollend interpretiert habe im Sinne der hermeneutischen Regel “Im Zweifel für den Autor!”. Diesen Fehler gestehe ich ein. Allerdings dachte ich, dass Singer die Einwände seiner Kritiker zunehmend berücksichtigen würde (wofür die zweite Auflage der “Praktischen Ethik” spricht, die sich deutlich von der Erstauflage unterscheidet).

Auch als wir Peter 2011 zusammen mit Paola Cavalieri mit dem Ethikpreis der gbs auszeichneten, vermittelte er im persönlichen Gespräch exakt diesen Eindruck. Das spiegelt sich auch wieder in dem Interview, das er 2011 im Zuge der Preisverleihung der FAZ gab. Bei diesem Interview konnte ich nahezu jeden Satz unterschreiben, beim aktuellen NZZ-Interview muss ich aber nahezu jedem Satz widersprechen. Dies habe ich ja auch ausführlich begründet: http://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/schmidt-salomon-peter-singer

Ein völlig anderer Punkt ist, dass du, Andreas, die innere Logik/Systematik meiner Philosophie nicht erkennen kannst. Das ist sehr bedauerlich, zum Glück aber gibt es viele Menschen, die dazu in der Lage sind. Dass du so große Schwierigkeiten mit meiner Philosophie hast, hat (neben persönlichen Problemen, die du offenkundig mit mir hast) möglicherweise damit zu tun, dass meine Positionen nicht dogmatisch (im Sinne einer bestimmten Denkschule) sind, sondern unterschiedliche Denkansätze in sich vereinigen. Diese Pluralität wird von dir offenkundig als widersprüchlich wahrgenommen, tatsächlich aber existiert ein logischer Widerspruch nur dann, wenn zwei Anschauungen in ein und demselben Punkt und in ein und derselben Hinsicht zu konträren Schlussfolgerungen kommen. Das ist aber sehr oft nicht der Fall, wie ich oben an der logischen Vereinbarkeit von Utilitarismus und (Menschenrechts-)Vertragstheorie gezeigt habe.

Andreas Müller:

Hallo Michael,

es stimmt, dass einige Utilitaristen aufgrund ihrer pragmatischen Überzeugung, dass ein Zugeständnis der Menschenrechte dem Wohle der größten Zahl dient, Menschenrechte bis zu einem gewissen Grad einräumen. Wie ich auch im Artikel geschrieben habe:

“Rechte gibt es für Utilitaristen nicht – oder höchstens als Mittel zum Zweck, nämlich dem Zweck, ein möglichst großes Glück für eine möglichst große Zahl zu erreichen (klassischer Utilitarismus). Oder: Um die Präferenzen empfindungsfähiger Wesen zu erfüllen (Präferenz-Utilitarismus).”

Die Menschenrechte sind demnach “Mittel zum Zweck” und dem eigentlich fundamentalen Ziel des Utilitarismus untergeordnet. Die Rechte sind also nicht unabhängig begründet wie von Naturrechtlern, sondern eine mögliche Derivation. Letztlich zählt das größte Glück der größten Zahl oder eine Variation dieser Idee, sonst könnte man auch nicht mehr von “Utilitarismus” sprechen.

Nun weist Singer im von mir genannten Zitat aus der Praktischen Ethik explizit darauf hin, wie er das sieht: „Ich bin nicht überzeugt davon, dass der Begriff eines moralischen Rechts hilfreich oder sinnvoll ist, außer man verwendet ihn als Kürzel, um auf fundamentalere moralische Erwägungen zu verweisen.“

Es geht hier ja konkret um Singers Position – und man muss zwar genauer hinsehen, um sie nachvollziehen zu können, aber sie ist schon explizit formuliert. Und sie lautet explizit, dass er nicht von der Idee von Rechten überzeugt ist.

Schließlich können persönliche Probleme auch begründet sein. Vielleicht ist ja keine irrationale Abneigung die Ursache für solche Probleme, sondern tatsächlich bestehende Charakterfehler.

Du neigst generell bei deinen Verteidigungsschriften und Kommentaren dazu, Kritik in Verbindung mit persönlicher Betroffenheit abzublocken und zwar regelmäßig mit dem Argument, der jeweilige Kritiker habe nur deine geniale, anspruchsvolle Argumentation oder Philosophie nicht verstanden. So eine Verteidigungsstrategie ist überheblich und dabei fundamental unsicher, und wird auch von vielen so wahrgenommen. Ich erinnere dich nur an deine Verteidigungsschrift zum Ferkelbuch, als du aus den Schmetterlingen auf einer Seite etwas über die Chaostheorie abgeleitet hast, was die einfältigen Jugendschützer nur nicht erkennen wollten (als müsste das irgendwer erkennen oder so sehen).

Ich denke, ich habe deine Denkweise und Philosophie inzwischen sehr gut verstanden. Bestimmte Ideen passen tatsächlich nicht zusammen und ergeben kein harmonisches, logisches Ganzes. Sie schweben häufig auch im leeren Raum ohne Kontakt zu unserem irdischen Dasein. Im Falle des Utilitarismus sind höchst problematische – wie du jetzt gerade am Beispiel Singers erkennen musstest – Fußnoten notwendig, um ihn mit der im Grunde systemfremden Menschenrechtsidee vereinbar zu machen.

Ich will dir aber gar nicht weiter vorhalten, irgendetwas nicht zu verstehen. Das sei, wie es will, und einräumen wirst du grundlegende Fehler sowieso nicht. Vielleicht der Hinweis, dass sich Denkschulen gerade dadurch auszeichnen, dass ihre Ideen logisch zusammenpassen, akzeptiert man ihre Prämissen. Nun ist es auch möglich, von korrekten Prämissen auszugehen und darauf zu achten, dass Inhalte stets mit den Tatsachen der Realität übereinstimmen, also grundlegend induktiv und nicht deduktiv vorzugehen. Am Ende kommt vielleicht sogar eine vernünftige Philosophie dabei heraus wie die von Ayn Rand.

LG
Andreas

Michael Schmidt-Salomon

Es ist schon etwas merkwürdig, dass ausgerechnet du, Andreas, der du dich von einem Hardcore-Materialisten zu einem Hardcore-Idealisten gewandelt hast, mir fehlende Stringenz vorwirfst.  Tatsächlich hat sich meine Kritik an Singers Positionen (wie auch meine Zustimmung zu anderen Überlegungen Singers) in den letzten 20 Jahren kaum geändert. Ich zitiere hier mal als Beleg die entsprechende Passage aus dem 2005 erschienenen “Manifest des evolutionären Humanismus”, S. 126ff.:

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Als Peter Singer in den 80er und 90er Jahren mit ähnlichen Thesen an die Öffentlichkeit trat, war die Aufregung groß.Vor allem in Deutschland wurde eine Hetzjagd sondergleichen auf den australischen Philosophen veranstaltet. Verantwortlich dafür war in erster Linie eine gut geschmierte religiöse Propagandamaschine, nachteilig wirkte sich aber auch der Umstand aus, dass Singer insgesamt doch recht idealistisch die ökonomischen Verwertungszusammenhänge
ausblendete, in die er mit seiner Theorie vorstieß.

Unter den gegebenen sozioökonomischen Bedingungen mussten viele Vertreter von
Behindertenverbänden befürchten, dass Singers Argumentation nicht – wie intendiert – dazu genutzt würde, um die Rechte der Tiere aufzuwerten, sondern um die Rechte von Menschen (insbesondere behinderten Menschen) abzuwerten. Diese Befürchtungen wurden zusätzlich dadurch geschürt, dass Singer nicht nur das „Recht auf Leben“ thematisierte, sondern auch das „Recht auf einen humanen Tod“. Durch die Verklammerung der beiden Themen fiel es seinen weltanschaulichen Gegnern leicht, Assoziationen zu den „Euthanasieprogrammen“ des „Dritten Reichs“ zu
wecken. Dass diese in Wirklichkeit natürlich alles andere als „Euthanasieprogramme“ waren – Ziel der Nationalsozialisten war bekanntlich nicht der „gute, schöne, leichte Tod“ (griechisch = euthanasía), sondern der systematische Massenmord an behinderten und psychisch kranken Menschen! –, ging in der allgemeinen Hysterie unter.

Um derartige Konfusionen zu vermeiden, soll hier unmissverständlich festgestellt werden, dass aus evolutionär-humanistischer Perspektive jeder Mensch von Geburt an – und dies ungeachtet seiner geistigen Kapazitäten! – das uneingeschränkte Recht auf Leben (incl. der damit einhergehenden Menschenrechte) besitzt, das nur in extremsten Sonderfällen (Notwehrprinzip, Tyrannenmord) in Frage gestellt werden
darf. Dieses unbedingte Recht zum Leben bedeutet jedoch keineswegs eine „unbedingte Verpflichtung zum Leben“. Evolutionäre Humanisten treten entschieden für das Selbstbestimmungsrecht des Menschen ein, das als Ultima Ratio auch das Recht auf Selbsttötung, ja sogar das Recht auf entsprechende fremde Hilfen zur Gewährleistung eines möglichst schmerzfreien, vorgezogenen Todes miteinschließt, sofern ein Weiterleben für das Individuum nichts weiter als Qual bedeuten würde.
Wenn die großen Religionen den Menschen dieses Recht absprechen, so ist dies ein Akt der Gewalt, ein fundamentales Verbrechen an der Menschheit, das in der Summe möglicherweise größeres Elend noch verursachte (und auch heute noch verursacht!) als alle blutigen Glaubenskriege der Geschichte zusammengenommen.

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Im Grunde beschreibt diese sehr kurzgefasste Kritik, die ich vor genau 10 Jahren (im Mai 2005) formulierte, schon recht genau das Problem, das mich am Montag veranlasste, die Laudatio auf Peter abzusagen. Wie ich bereits schrieb, hatte ich 2011 den Eindruck, dass Peter bereit war, die Einwände seiner Kritiker produktiv zu verarbeiten, Mit dem NZZ-Interview hat er jedoch einige besonders problematische Positionen noch einmal radikalisiert, was übrigens nicht nur zu meiner Absage führte, sondern auch zur Absage von Wolf-Michael Catenhusen, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, der ebenfalls auf der Preisverleihung sprechen sollte.

Vielleicht rühren deine Interpretationsprobleme gegenüber meiner Philosophie, Andreas, auch daher, dass du angenommen hast, ich sei ein strikter Verfechter des Utilitarismus. Aber das ist nun einmal nicht wahr. Warum sollte ich das auch sein? Schon Julian Huxley hat klargemacht, dass sich der evolutionäre Humanismus weder auf eine bestimmte Religion noch auf eine bestimmte philosophische Denkschule stützt, sondern als Rahmenmodell darauf angelegt ist, verschiedene Denkschulen zu integrieren (und dadurch auch zu modifizieren). Deshalb wäre es vollkommen falsch, den evolutionären Humanismus als utilitaristische Philosophie zu beschreiben. Utilitaristische Überlegungen spielen in dem Modell zwar eine Rolle, aber das gilt ebenso für die Vertragstheorie, das Prinzip der kritischen Prüfung des Kritischen
Rationalismus, Schopenhauers Mitleidsethik, Epikurs Hedonismus, Kropotkins Anarchismus und vieles andere mehr. So, das soll es aber von meiner Seite gewesen sein. Beste Grüße, MSS

Andreas Müller

Hi Michael,

ja, es ist dir durchaus zugestanden, deiner Position seit dem Manifest treu geblieben zu sein. Das geht an meiner Kritik vorbei. Ich bemängele keineswegs, dass du deine Positionen zu häufig wechseln würdest. Man sollte seine Positionen immer dann verändern, wenn man durch Erkenntnisse dazu motiviert wird, dies zu tun – wenn man also herausfindet, dass die Tatsachen anders aussehen, als man es zuvor vermutet hatte. Je mehr die eigenen Überzeugungen auf den Tatsachen der Realität beruhen, desto weniger wird man sie verändern müssen. Da bietet es sich an, Kritik und widersprüchliche Belege nicht einfach auszublenden.

Meine Kritik bezieht sich auf dein Verständnis systematischer Philosophien. Ich habe behauptet, dass du Singers Ethik, die im Kern gleich geblieben ist, nicht wirklich verstanden hast. Seine Ethik ist hierarchisch aufgebaut und du stimmst, wie du ja selbst sagst, mit seinen Prämissen nicht überein, aus denen sich seine problematischen Aussagen ergeben. Auch dass sich Singer in verschiedenen Kontexten unterschiedlich ausdrückt, ist zugestanden. Überraschen konnten seine im umstrittenen Interview geäußerten Ansichten aber trotzdem nicht, bedenkt man seine Prämissen (die Grundlagen seines Utilitarismus). Kurz gesagt: Man hätte es sich denken können und Singer war zwar manchmal zurückhaltender als bei anderen Gelegenheiten, er hat aber insgesamt doch konsequent seine Position verteidigt. Ein Utilitarist generell und Singer konkret hat eben bestimmte Überzeugungen, von denen man sich gleich überlegen kann, ob man mit ihnen übereinstimmt und was sie implizieren. Dass du die Laudatio abgesagt hast, kritisiert Edgar Dahl. Er glaubt, du trägst damit zur Atmosphäre in Deutschland bei, die ihm die Meinungsfreiheit streitig machen will. Das mag sein, aber ich finde es trotzdem legitim, dass du die Laudatio abgesagt hast, wenn du mit ihm auf grundlegende Art nicht übereinstimmst.

Ich finde es rätselhaft, dass du dieses große religionskritische Zitat aus dem Manifest anführst. Ich bin nach wie vor Atheist, also werden mich religiöse Behauptungen nicht beeindrucken. Bezüglich der Sterbehilfe teile ich die Position von Edgar Dahl, mit dem ich ja ein E-Book zum Thema (“Dem Tod zur Hand gehen”) herausgebracht habe. Im Gegensatz zu dir sind wir nicht der Meinung, dass Ärzte dazu verpflichtet (!) sein müssten, auf Wunsch des Patienten Sterbehilfe zu leisten. Ärzte dürfen schließlich auch von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen. Sie dürfen ebenso auf ihr Gewissen hören wie die Patienten. Grundsätzlich teilen wir eine liberale Position bei der Frage, die auf der individuellen Selbstbestimmung beruht. Das gilt ebenso für Abtreibung, die meiner Ansicht nach bis zur Geburt straffrei sein sollte (das ist auch die objektivistische Position zum Thema).

Jetzt zu dem Problem deiner Philosophie, des Evolutionären Humanismus. Du schreibst, dass Menschen ab Geburt ein Recht auf Leben haben, aber keine Pflicht zu leben. Was fehlt ist eine Begründung, warum wir ein Recht auf Leben haben und was dieses Recht bedeutet. Bedeutet dieses Recht, dass andere Menschen arbeiten müssen, um uns am Leben zu erhalten oder bedeutet es nur, dass uns niemand unser Leben nehmen darf und es die Aufgabe des Staates ist, unser Leben vor Gewalteinwirkung durch andere Bürger und den Staat selbst zu schützen? Fest steht für mich jedenfalls, dass ein Mensch, dem sein eigenes Leben gehört und der über sein eigenes Leben (und nur über dieses!) bestimmt, kein Recht darauf haben kann, von anderen Menschen auf Wunsch getötet zu werden. Irgendwie muss dein Verständnis von Rechten eine solche Pflicht (!) implizieren. Mein Verständnis von Rechten impliziert keine Pflichten, außer die Rechte anderer Menschen zu achten.

Du schreibst: „Schon Julian Huxley hat klargemacht, dass sich der evolutionäre Humanismus weder auf eine bestimmte Religion noch auf eine bestimmte philosophische Denkschule stützt, sondern als Rahmenmodell darauf angelegt ist, verschiedene Denkschulen zu integrieren (und dadurch auch zu modifizieren).“

Würde er sie tatsächlich logisch „integrieren“, soweit sie auf der Realität beruhen, hätte ich nicht einmal etwas dagegen (im Gegenteil). Wie deine Beispiele allerdings belegen, wirfst du vielmehr widersprüchliche Denkschulen willkürlich zusammen (ich kann auf Anfrage gerne aufzeigen, inwiefern sie widersprüchlich sind). Erinnerst du dich an die Frage von Richard Dawkins, auf welcher Grundlage moderate Gläubige entscheiden, welche Bibelstellen nun dem wahren Glauben entsprechen? Ich könnte dir eine ähnliche Frage stellen: Woher weißt du, was du in den evolutionär-humanistischen Topf werfen kannst? Mit welcher Methode entscheidest du, welche Zutaten dort hineinkommen? Ich behaupte, dass du keine Methode hast und nicht weißt, welche Ideen man kombinieren kann und warum – und welche nicht.

Schließlich stimmt es, was philosopherofanniversary angeführt hat, dass ich natürlich kein Idealist bin und schon gar nicht „hardcore“. Ich bin Objektivist. Der Materialismus leugnet den menschlichen Geist, der Idealismus leugnet die materielle Welt und der Objektivismus erkennt beide an. Mit den Worten der modernen Philosophie bin ich ein „nicht-reduktionistischer Naturalist“.

Deine Erklärungen haben leider nicht zu mehr geführt, als meine Bewertungen zu bestätigen. Gewissermaßen ist das aber eine gute Sache, denn wie schon gesagt – wäre dir inklusive der Implikationen wirklich bewusst, welche Ideen du da predigst, müsste ich dich moralisch erheblich stärker verurteilen. So finde ich es im Grunde vor allem schade, dass du kein echtes Interesse an Philosophie hast, obwohl gerade du den Einfluss hättest, zur Aufklärung effektiv beizutragen.

Michael Schmidt-Salomon

Lieber Andreas, versteh’ mich bitte nicht falsch: Ich begrüße es natürlich, dass du die Perspektive des radikal-reduktionistischen Physikalismus aufgegeben hast. Früher hast du meine Position eines nicht-reduktionistischen, emergentistischen Naturalismus (siehe http://www.schmidt-salomon.de/jvgub/nachwort_jvgub.pdf) ja genau auf dieser reduktionistisch-physikalistischen Basis angegriffen. Ich denke, dass man allerdings darüber streiten kann, ob deine jetzige Position wirklich noch naturalistisch ist oder ob sie nicht doch schon stark idealistische Komponenten hat (meines Erachtens muss eine naturalistische Position aufzeigen, dass nicht-reduzierbare, emergente Phänoneme nicht im Widerspruch zu physikalischen Grundgesetzen stehen). Den Vorwurf des “Hardcore-Idealismus” nehme ich aber zurück, das war in der Tat übertrieben.

Was Peter Singer betrifft: Dein Vorwurf war, dass ich Peter Singer nie verstanden hätte. Wie ich aber gezeigt habe, habe ich Peters Argumente in bestimmten Punkten schon seit jeher kritisiert. Es gab allerdings bei ihm eine Phase, bei dem er in seinen Schriften, vor allem aber auch im persönlichen Gespräch, den Eindruck erweckte, dass er wichtige Argumente des Regel-Utilitarismus (mit dem sich Menschenrechte wunderbar begründen lassen) akzeptieren würde. Neuerdings ist Peter nun aber sogar vom Präferenz-Utilitarismus abgerückt und wieder bei Bentham gelandet (siehe hierzu seine jüngsten philosophischen Veröffentlichungen in englischer Sprache). In dem NZZ-Interview kam dies dann in geballter Form zum Ausdruck.

Zur Systematik: Es ist richtig, dass Vertreter verschiedener Denkschulen zu Schlussfolgerungen gelangen, die im Widerspruch zueinander stehen. Das heißt aber nicht, dass eine philosophische Position, die sich der Argumente verschiedener Denkschulen bedient, in sich widersprüchlich sein muss. Dies nämlich hängt davon ab, welche Argumente welcher Denkschule man auf welche Weise miteinander verknüpft. Du müsstest also aufzeigen, inwieweit meine Philosophie in sich widersprüchlich ist – und eben das hast du nicht getan.

Zur Sterbehilfe: Ich stimme zu, dass man keinen Arzt dazu zwingen darf, Sterbehilfe zu leisten. Das ist selbstverständlich eine persönliche ethische Entscheidung. Allerdings denke ich, dass ein Mensch vor seiner Berufswahl überlegen sollte, ob er tatsächlich die erforderlichen Qualifikationen für seinen Job besitzt. Konkret: Ich meine, dass ein Palliativmediziner, der aus ethischen Gründen einen wohlinformierten, aufgeklärten Patienten bei seinem Sterbe-Wunsch nicht unterstützen kann, für seinen Job ähnlich schlecht geeignet ist wie ein Gynäkologe, der es aus ethischen Gründen ablehnt, einer vergewaltigten Frau die Abtreibungspille zu verschreiben. Bist du da wirklich anderer Ansicht?

Leider habe ich nicht die Zeit, über diese und andere Punkte ausführlicher zu diskutieren. Das liegt aber sicher nicht daran, dass ich “an Philosophie nicht interessiert” bin, wie du schreibst (willst du mir das wirklich allen Ernstes vorwerfen?!), sondern dass ich einfach in so viele Projekte involviert bin, dass ich es nicht mehr schaffe, auf kritische Erwiderungen im Internet zu antworten.

Beste Grüße,
MSS

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Nachwort Andreas Müller

Der letzte Kommentar von MSS war der letzte Beitrag der Debatte. Leider stellt MSS am Ende einige gute Fragen und Herausforderungen in den Raum, die ich nicht völlig unbeantwortet lassen kann. MSS hätte gerne, dass ich die Widersprüchlichkeit seines philosophischen Systems aufzeige. Ein philosophisches System besteht mindestens aus den Teilbereichen Metaphysik, Epistemologie, Ethik und Politik. Kurz gesagt hat MSS kein philosophisches System, dessen Widersprüchlichkeit ich aufzeigen könnte. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass es so etwas in der modernen Philosophie nicht mehr gibt. Immanuel Kant war der letzte systematische Denker (der oben erwähnte Peter Singer ist nur ein systematischer Ethiker). Ayn Rand war ebenso eine systematische Denkerin, allerdings steht sie außerhalb der Tradition (als Aristoteles-Schülerin könnte man sie höchstens zu den alten Griechen zählen).

Es wäre möglich, die Ideen unterschiedlicher Philosophien, die in sein Manifest des Evolutionären Humanismus eingeflossen sind, herauszuarbeiten und dann aufzuzeigen, inwiefern sie sich widersprechen. Wobei es wichtiger wäre, aufzuzeigen, inwiefern sie nichts mit der Welt, in der wir leben, zu tun haben. Eine vollständige Analyse des Manifests wäre mir im Moment zu aufwändig. Einige zentrale Punkte möchte ich hier noch ausführen. Ein Umstand erleichtert mir die Arbeit: Das Manifest enthält keine systematische Begründung etwa der Menschenrechte – oder von irgendetwas. MSS bietet in dieser Richtung nur die “Humanistische Basis-Setzung” an. Dabei handelt es sich um ein ethisches Axiom.

Die quasi-religiöse Ethik des Evolutionären Humanismus

Wer meine Seminare besucht hat, bei dem schrillen jetzt die Alarmglocken. Axiome müssen selbst-evident sein. Es gibt lediglich drei echte philosophische Axiome, und zwar in der Metaphysik: Existenz (es gibt etwas), Identität (alles, was existiert, hat eine bestimmte Identität) und Bewusstsein (das Vermögen, die Realität zu erkennen). Diese Axiome sind selbst-evident (wir wissen es, sobald wir die Augen aufmachen und unser Bewusstsein einschalten) und unwiderlegbar (weil sie am Anfang aller Beweise stehen und von Beweisen jeder Art vorausgesetzt werden, wobei jeder Versuch, sie zu widerlegen, die Axiome implizit anerkennt). Wie ich in der Diskussion über Ayn Rands Philosophie, also im letzten Seminar, gesagt habe, sollte man tunlichst vermeiden, irgendetwas zu einem Axiom zu erklären, wenn man eine andere Wahl hat. Eine Aussage muss ganz eindeutig ein Axiom sein – darum habe ich kürzlich die Kausalität, die von manchen objektivistischen Denkern dazu gezählt wird, aus den metaphysischen Axiomen herausgenommen. Im Grunde müsste man hier eine Variation von Ockhams Rasiermesser anwenden – so wenige Axiome wie möglich aufstellen. MSS sieht das grundsätzlich auch so – dann müsste er aber auch einsehen, dass es in der Ethik keine Axiome gibt, sondern nur am Anfang aller Philosophie, also in der Metaphysik.

Die Grundlage einer Ethik willkürlich als Axiom festzusetzen ist ein Anachronismus in der modernen Philosophie, eine Sünde, die ausgerechnet auch von Libertären begangen wird, die das Nichtangriffsprinzip zu einem ethischen Axiom erklären. Es ist typisch für vor-philosophische Weltanschauungen, dass sie ethische Axiome aufstellen: Für die Religionen. Religionen stellen willkürliche ethische Behauptungen auf – etwa die Zehn Gebote – und verlangen dann von ihren Anhängern, diese Gebote einfach zu akzeptieren. Es besteht kein Unterschied zwischen der Humanistischen Basis-Setzung und religiösen Dogmen, an die man einfach glauben muss. Dazu passen die “Zehn Angebote” von MSS wiederum sehr gut.

Mit den Worten von MSS:

Es wird nicht verschwiegen, daß neomodernes Denken – wie jedes Denken – notwendigerweise auf willkürlich festgelegten, moralischen Axiomen  gründet. Ein solches Axiom ist nicht zu begründen, denn es bildet erst die Grundlage für Begründungen. Es befindet sich also sozusagen im „argumentationsfreien Raum”, muß losgelöst von Argumentation eingesehen werden.

Es ist vorbildlich, dass MSS als neomoderner Priester den Titel des deutschen “Chefatheisten” abgelehnt hat, denn weltlich argumentiert er nicht gerade. MSS hat vielmehr eine quasi-religiöse Pflichtethik aufgestellt, wie zuvor schon Kant (aber lange nicht auf dem Niveau). Sein ethisches Axiom, sein “HBS” lautet:

ALLE MENSCHEN (ungeachtet welcher Gruppe sie angehören – auch die kommenden Generationen werden hier mit einbezogen!) SIND GLEICHBERECHTIGT UND FREI IN IHREM STREBEN, IHRE INDIVIDUELLEN VORSTELLUNGEN VOM GUTEN LEBEN IM DIESSEITS ZU VERWIRKLICHEN, SOFERN DADURCH NICHT DIE GLEICHBERECHTIGTEN INTERESSEN ANDERER IN MITLEIDENSCHAFT GEZOGEN WERDEN, UND ES IST DIE UNAUFKÜNDBARE AUFGABE EINES JEDEN MENSCHEN MIT ALLEN ZUR VERFÜGUNG STEHENDEN KRÄFTEN DAZU BEIZUTRAGEN, DASS MÖGLICHST WENIGEN (IM IDEALFALL: NIEMANDEM) DIE INANSPRUCHNAHME DIESES FUNDAMENTALEN RECHTS VERSAGT BLEIBT.

Immerhin hat MSS inzwischen seine unerträgliche Großschreibung in eine unerträgliche Kursivschreibung weiterentwickelt, die seine neueren Bücher kennzeichnen. MSS fordert von den Menschen das Unmögliche – es zum zentralen Ziel ihres Handelns zu machen, mit allen Kräften irgendein vages liberales Recht für alle Menschen auf dem Planeten zu erkämpfen, das MSS willkürlich in den Raum stellt – und als einzige Alternative zu seiner Willkür nennt er die postmoderne Beliebigkeit. Die Alternative lautet also: Beliebigkeit oder Willkür? Ich frage mich, worin der Unterschied besteht.

Dieses ethische Axiom ist irgendwie außerdem ein politisches Axiom: “Die politische Maxime des Radikalen Humanismus entspricht also dem MARXschen kategorischen Imperativ, der verlangt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.”

Wir sollen also dogmatisch an eines der Gebote von Karl Marx glauben.

Und du fragst mich, welches Problem ich mit deiner Philosophie habe, Michael?

Bewusstsein

Es stimmt, dass ich zuvor ein reduktionistischer Physikalist war. Das ist kein Geheimnis und ich habe das schon mehrmals zugegeben. Im Gegensatz zu manchen anderen Leuten sehe ich gelegentlich Fehler ein und begehe sie nicht wieder.

MSS hält meine neue Position, falls er sie kennt, was ich nicht glaube, für idealistisch:

meines Erachtens muss eine naturalistische Position aufzeigen, dass nicht-reduzierbare, emergente Phänomene nicht im Widerspruch zu physikalischen Grundgesetzen stehen

In diesem Satz stecken eine ganze Reihe von Annahmen, die man eigentlich nicht einfach voraussetzen kann – ein bisschen wie das ethische Axiom von MSS. Außerdem schummelt er einen Aspekt in mein Konzept der Willensfreiheit hinein, das vorher gar nicht da war: Die Behauptung, die Willensfreiheit sei ein “emergentes” Phänomen. Das ist eine Idee aus der modernen Bewusstseinsphilosophie, laut der der menschliche Geist aus der materiellen, physikalischen Welt irgendwie “hervorgeht”. D.h. der Geist ist von der physikalischen Welt abhängig und daraus abgeleitet. Irgendwann nimmt Materie eine Form oder eine “Komplexität” an, dass sie einen Geist entwickelt.

Die objektivistische Position lautet, dass wir keine Ahnung haben, woher der Geist kommt  – weil das keine philosophische, sondern eine naturwissenschaftliche Frage ist. Und wir sind keine Naturwissenschaftler. Philosophisch kann man nur feststellen, dass der menschliche Geist existiert und dass er ein Attribut der Lebensform Mensch ist. Dass er existiert, erfahren wir durch die Tatsache, dass uns die Welt bewusst ist. Sie lesen gerade bewusst diesen Text. Ohne Bewusstsein, ohne menschlichen Geist, könnten Sie nicht bewusst diesen Text lesen. Das Bewusstsein ist ein Axiom, also selbst-evident. Und Sie wissen es. Und Sie haben es gerade dadurch erkannt, dass Sie den Satz “Sie wissen es” verstanden haben. Mit Ihrem Geist. Alles klar? Und wenn nicht, dann ist Ihr mangelndes Verständnis dieses Zusammenhangs eine Eigenschaft Ihres Geistes.

Die Willensfreiheit ist eine Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins. Ayn Rand drückte es wie folgt aus:

Der Mensch existiert und sein Geist existiert. Beide sind ein Teil der Natur, beide besitzen eine bestimmte Identität. Das Attribut der Willensfreiheit widerspricht keineswegs der Tatsache der Identität, wie die Existenz von lebenden Organismen nicht der Existenz von unbelebter Materie widerspricht. Lebewesen besitzen das Vermögen der selbst-initiierten Bewegung, die unbelebte Materie nicht besitzt; das menschliche Bewusstsein besitzt das Vermögen der selbst-initiierten Bewegung im Bereich der Kognition (Denken), die das Bewusstsein anderer Lebewesen nicht besitzt. Doch wie Tiere sich nur in Übereinstimmung mit der Natur ihrer Körper bewegen können, so kann der Mensch seine geistigen Aktivitäten nur in Übereinstimmung mit der Natur (der Identität) seines Bewusstseins initiieren und steuern.

Regelutilitarismus

Regel-Utilitarismus (mit dem sich Menschenrechte wunderbar begründen lassen)

MSS behauptet, dass sich Menschenrechte mit dem Regelutilitarismus begründen ließen. Der besagt genau das, was ich oben schon kritisiert hatte. Er behauptet, dass man bestimmte Regeln (etwa die Menschenrechte) zunächst utilitaristisch begründen kann. D.h. die Menschenrechte sollen angeblich dem größten Glück der größten Zahl dienen. Hat man das einmal festgestellt, dann soll man einzelne Handlungen, die die Menschenrechte achten, nicht mehr darauf hinterfragen, ob sie sich unabhängig utilitaristisch begründen lassen. Es genügt angeblich, dass die Achtung der Menschenrechte einmal utilitaristisch begründet worden ist.

Ich finde die Kritik der Anhänger von Bentham, also der Original-Utilitaristen, am Regelutilitarismus allerdings überzeugend, sofern man überhaupt vom Utilitarismus ausgeht, wofür es keinen guten Grund gibt. Im Grunde sagen sie, dass es reine Willkür ist, Handlungen nicht mehr weiter auf ihre Vereinbarkeit mit dem Utilitarismus zu hinterfragen, wenn sie einer Regel folgen, die man utilitaristisch begründet hat. Der Regelutilitarismus ist ein Utilitarismus für Faulpelze, die einfach keine Lust mehr haben, eigentlich notwendige Begründungen zu liefern. Als eine Willkürethik passt sie wiederum gewissermaßen zur übrigen Willkür in der Philosophie von MSS. Die Begründung der Menschenrechte durch den Regelutilitarismus hat wiederum nichts mit der Begründung der Menschenrechte durch die Humanistische Basissetzung von MSS zu tun (wo ist die eigentlich geblieben?).

Sterbehilfe

Ich stimme zu, dass man keinen Arzt dazu zwingen darf, Sterbehilfe zu leisten. Das ist selbstverständlich eine persönliche ethische Entscheidung. Allerdings denke ich, dass ein Mensch vor seiner Berufswahl überlegen sollte, ob er tatsächlich die erforderlichen Qualifikationen für seinen Job besitzt. Konkret: Ich meine, dass ein Palliativmediziner, der aus ethischen Gründen einen wohlinformierten, aufgeklärten Patienten bei seinem Sterbe-Wunsch nicht unterstützen kann, für seinen Job ähnlich schlecht geeignet ist wie ein Gynäkologe, der es aus ethischen Gründen ablehnt, einer vergewaltigten Frau die Abtreibungspille zu verschreiben. Bist du da wirklich anderer Ansicht?

Ja, da bin ich anderer Ansicht. Das große ethische Ziel von Ärzten ist es, Menschen zu heilen. Ich kenne einige Leute, die aus puren idealistischen Gründen Ärzte geworden sind (auch ökonomisch eine weit bessere Idee, als aus idealistischen Gründen Publizist zu werden), weil sie Menschen heilen möchten. Nun erzählst du denen, dass sie fehl am Platze sind als Ärzte, wenn sie ihre Patienten auf deren Wunsch hin nicht beim Selbstmord helfen wollen. Sorry, nein, ich finde nicht, dass sie das unbedingt tun müssten. Es gehört nicht zu den essenziellen Aufgaben eines Arztes, zum Tod seiner Patienten beizutragen. Irgendwie klar, oder?

Abtreibungspillen sollte ein Arzt verschreiben, weil eine Frau das Recht hat, über ihr eigenes Leben zu bestimmen, und ein Embryo nicht. Ein todkranker Patient hat natürlich auch Rechte – aber es gibt kein politisches oder auch nur ethisches Recht, dass einem andere Menschen bei der Selbsttötung helfen müssen. Erneut wird klar, dass MSS von einer Pflichtethik ausgeht.

Damit wären die zentralen Fragen und Herausforderungen von MSS beantwortet.

Weitere Debatten

Ich stand während meiner Zeit beim Humanistischen Pressedienst in einem regen Austausch mit MSS. Die philosophischen Debatten vermisse ich. Wir hatten letztlich zu große inhaltliche Differenzen und haben uns zerstritten. Das lag allerdings auch an der Haltung von MSS mir gegenüber, die aus unseren Gesprächen ersichtlich wird.

Das Auseinandergehen kündigte sich bereits bei unserer großen Debatte über die Willensfreiheit an. Ich habe inzwischen meine Position zur Willensfreiheit geändert und glaube, wir haben einen freien Willen. Die Debatte ist dennoch sehr interessant:

Andreas Müller: Im Labyrinth der Willensfreiheit

Michael Schmidt-Salomon: Wege aus dem Labyrinth