Widerlegt das Gefangenendilemma den Egoismus?

Peter Singer: Eine Darwinistische LinkeIn seinem Buch A Darwinian Left: Politics, Evolution, and Cooperation nutzt der Philosoph Peter Singer die Evolutionsbiologie, um ein Konzept für eine moderne politische Linke auszuarbeiten. Als Vertreter einer altruistischen Ethik führt Singer in diesem Buch das Gefangenendilemma, ein Modell aus der Spieltheorie (mathematische Ökonomie), als Beweis an, dass sich die egoistische Ethik selbst widerlege. Er schreibt:

„[Das Gefangenendilemma] zeigt, dass das Ergebnis rationaler, eigeninteressierter Entscheidungen von zwei oder mehr Individuen sie alle schlechter stellen kann, als wenn sie nicht ihr kurzzeitiges Eigeninteresse angestrebt hätten. Die individuelle Verfolgung des Eigeninteresses kann kollektiv selbstzerstörerisch sein.“ (S. 48)

Wie sie formuliert ist, würde ich dieser Aussage zustimmen. In der Tat führt das Handeln im kurzfristigen Eigeninteresse weder zum eigenen Wohl noch zum Wohl irgendeiner Gruppe. Das sieht die objektivistische Ethik ebenso. Im Grunde wüsste ich gerne, welcher Moralphilosoph das anders sieht oder jemals anders gesehen hat.

Möglicherweise hat es in der sensualistischen Strömung der Aufklärung, den frühen Verteidigern des „Kapitalismus“ manche gegeben, die in eine solche Richtung gegangen sind. Unter den Anarchokapitalisten scheinen sich auch noch einige zu finden, die das so ähnlich sehen. Aber diese Ideen sind philosophisch so gut wie bedeutungslos und wenn Menschen im kurzfristigen, subjektiven, gefühlsgesteuerten Eigeninteresse handeln, dann meistens doch eher, weil sie keine Prinzipien haben, und nicht, weil sie einer bestimmten Philosophie folgen (außer vielleicht einer solchen, die sagt, es wäre gut, keine Prinzipien zu haben, wie etwa der Pragmatismus).

Immerhin ist das noch weit entfernt vom wohl absurdesten Argument gegen den rationalen Egoismus, das sich der berühmte zeitgenössische Philosoph Derek Parfit ausgedacht hat: Laut dem rationalen Egoismus sei es unvernünftig, für die eigene Rente vorzusorgen, weil es keinen Grund gebe, jetzt auf einen Vorteil zu verzichten, um dem zukünftigen Selbst einen Gefallen damit zu tun – weil das zukünftige Selbst eine andere Person sei als das jetzige Selbst. Einer anderen Person etwas Gutes zu tun und dafür selbst auf etwas zu verzichten, wäre eher altruistisch als im rationalen Eigeninteresse. Und die Leute fragen mich, was ich an moderner Philosophie auszusetzen habe!

Wirklich alle Versuche, an John Lockes Argumentation, was die menschliche Person auszeichne (Kontinuität über die Zeit, etc.), vorbei zu argumentieren, führen zu bizarren Albernheiten, bis hin zur Leugnung, dass etwas wie eine Person überhaupt existiere. Eine Idee, die gerade heute beliebt ist und  sicherlich auf die ganzen Nicht-Entitäten zutrifft, die sie vertreten.

Genug mit der Abschweifung und zurück zum Gefangenendilemma. Im Folgenden werde ich darlegen, wie das Dilemma lautet, was es bedeutet, wo es in der Praxis eine Rolle spielt („Tragedy of the Commons“) und warum es den Kapitalismus und die objektivistische Philosophie nicht betrifft.

Widerlegt das Gefangenendilemma den Egoismus?

Hier ist das Dilemma:

Das Gefangenendilemma sperrt den Verstand anderweitig vernünftiger Menschen hinter Gitter (morguefile.com)
Das Gefangenendilemma soll ein Argument für den Altruismus darstellen (morguefile.com)

Zwei Gefangene werden verdächtigt, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben. Beide Gefangene werden in getrennten Räumen verhört und haben keine Möglichkeit, sich zu beraten bzw. ihr Verhalten abzustimmen. Die Höchststrafe für das Verbrechen beträgt sechs Jahre. Wenn die Gefangenen sich entscheiden zu schweigen (Kooperation), werden beide wegen kleinerer Delikte zu je zwei Jahren Haft verurteilt. Gestehen jedoch beide die Tat (Defektion), erwartet beide eine Gefängnisstrafe, wegen der Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden jedoch nicht die Höchststrafe, sondern lediglich von vier Jahren. Gesteht nur einer (Defektion) und der andere schweigt (Kooperation), bekommt der erste als Kronzeuge eine symbolische einjährige Bewährungsstrafe und der andere bekommt die Höchststrafe von sechs Jahren.

In diesem Szenario würden beide Gefangene gestehen (Defektion), wenn sie eine möglichst geringe Haftstrafe anstreben. Sie bekommen dann vier Jahre Haft. Geringer wäre die Haftstrafe, wenn sich beide entscheiden würden zu schweigen (Kooperation). Das funktioniert nur, wenn es beide tun, sonst bekommt der eine Gefangene eine einjährige Bewährungsstrafe und der andere die Höchststrafe von sechs Jahren.

Das Gruppeninteresse weiche hier also vom Einzelinteresse der Individuen ab, sagen Ökonomen. Die Implikation ist, dass wir manchmal in unserem eigenen Interesse entgegen dem handeln sollten, was uns vernünftigerweise als unserem eigenen Interesse dienlich erscheint. Wir sollten etwas tun, von dem wir glauben müssen, dass es uns schadet, weil es uns tatsächlich nützt. Und das, was wir tun sollen, ist uns nach bestem Wissen und Gewissen selbst zu schaden, indem wir mit anderen kooperieren. Am Ende ist das auch für uns das Beste.

Was man damit nun als individueller Mensch anfangen soll, ist die Frage. In der Mischwirtschaft ist das Gefangenendilemma gelegentlich anzutreffen, im reinen Kapitalismus zumindest viel seltener.

Tragedy of the Commons: Das Dilemma in der Praxis

Die "Tragödie der Gemeingüter" (Implikation des Gefangenendilemmas) ist kapitalistischen Philosophen bekannt. Tibor Machan widmete dem Thema ein Buch.
Die „Tragödie der Gemeingüter“ (Implikation des Gefangenendilemmas) ist kapitalistischen Philosophen bekannt. Tibor Machan widmete dem Thema ein Buch.

Das Gefangenendilemma wird als Argument gegen das Handeln im rationalen Eigeninteresse angeführt. In der Praxis findet man es in abgewandelten Formen als Trittbrettfahrerproblem bei Gemeingütern vor. Das bedeutet, es bezieht sich gerade nicht auf den Kapitalismus, wo sich die Produktionsfaktoren in Privateigentum befinden. Vielmehr wurde das Trittbrettfahrerproblem häufig als einer der Gründe für das Scheitern des Sozialismus angeführt: Wenn jeder bekommt, was er benötigt, unabhängig davon, wie viel Arbeit er investiert, dann wird jeder möglichst wenig arbeiten und möglichst viel „benötigen“.

Nun gibt es auch innerhalb marktwirtschaftlich organisierter Gesellschaften Gemeingüter, darunter: Die natürliche Umwelt (eine „gesellschaftliche Ressource“).

Überfischung

Ein reales Beispiel für die Tragödie der Gemeingüter ist die Konkurrenz zwischen Fischern um die Fische im Meer. Der Grund für Überfischung besteht darin, dass das Meer als Gemeingut angesehen wird und wenn jeder Fischer im Eigeninteresse handelt, dann fischt er so viel, wie es geht, und zwar schneller als die anderen – bevor die Fische weg sind.

Das führt zur Überfischung der Ozeane. Die Fischer würden davon profitieren, wenn sie stattdessen kooperieren und sich absprechen würden, nur eine bestimmte Menge zu fischen, damit sich der Fischbestand erholen kann. Hier erkennt man auch einen Unterschied zum Gefangenendilemma: Den Fischern ist das Problem der Überfischung bekannt und sie könnten sich mit anderen Fischern absprechen. Die Gefangenen wissen hingegen nicht, was der andere Gefangene tut, sie können sich nicht absprechen und sie können daher nicht das beste Ergebnis durch Kooperation erreichen.

Da Fischer aber aus verschiedenen Ländern und von verschiedenen Orten kommen und für verschiedene Unternehmen arbeiten, ist das mit der Kooperation trotzdem nicht einfach. Außerdem: Was, wenn ein neuer Fischer dazukommt und sich nicht an die Fischquoten hält, auf die man sich mit dem Fischerkartell geeinigt hat? Schließlich gehören dem hypothetischen Fischerkartell nicht das Meer und nicht die Fische. Seine Mitglieder können also niemanden effektiv davon abhalten, doch mehr zu fischen, als abgesprochen wurde. Eben weil das Meer und die Fische Gemeingüter sind.

Also sollte man eben die Fische privatisieren.

Öffentliche Schulen

Wie kann man die Bildung in einer kapitalistischen Gesellschaft gestalten? Diesem Thema hat Machan einen Sammelband gewidmet.
Wie kann man die Bildung in einer kapitalistischen Gesellschaft gestalten? Diesem Thema hat Machan einen Sammelband gewidmet.

In unserer Gesellschaft ist mehr als nur die natürliche Umwelt Gemeingut, nämlich auch „öffentliche Güter“ wie öffentliche Bibliotheken, Schulen und die Infrastruktur. Um gesellschaftliche Ressourcen herrscht Konkurrenz – verschiedene Fischer wollen möglichst den anderen zuvorkommen – und um öffentliche Güter nicht oder nur bedingt.

Wie sich das Trittbrettfahrerproblem bei Gemeingütern („tragedy of the commons“) bei öffentlichen Schulen unter anderem auswirkt, habe ich meiner Schulzeit mit der Lehrkraft besprochen, die mit der Ausleihe der Schulbücher befasst war. Der Lehrer war frustriert und wütend, weil die Schüler keinen großen Anreiz hatten, auf die Bücher achtzugeben. Auch die Eltern haben sie nicht dazu angehalten, die Bücher sorgfältig zu behandeln. Und so gab es jedes Mal einen Kampf um halbwegs brauchbare, nicht vollgekritzelte Schulbücher. In Harry Potter und der Halbblutprinz gibt es eine witzige Szene, in der sich Ron und Harry um eine Ausgabe des Zaubertränke-Buches streiten, die sich um dasselbe Thema dreht:

[tube]http://www.youtube.com/watch?v=VmyCIY0mZsI[/tube]

Der Grund für die mangelnde Sorgfalt beim Umgang mit den Schulbüchern ist die Tatsache, dass die Schüler die Bücher umsonst bekommen, sie jedem gehören und sie wieder zurückgegeben werden müssen. Der individuelle Schüler interessiert sich nur für sich selbst und nicht für „nachfolgende Generationen“ von Schülern, wie uns Ökologen in einem anderen Zusammenhang ermahnen. Als Lösung für das Problem schlagen manche Strafen vor. Wer ein Buch zerstört, muss es bezahlen. Das Ergebnis davon war, dass jeder sein Buch gerade so sehr kaputt gemacht hat, dass es deutlich schlechter ausgesehen hat als vorher, aber auch so, dass er es noch nicht bezahlen musste.

Klar, nicht alle Menschen sind dermaßen beschränkt. Ich habe so gut wie nie in meine Schulbücher gekritzelt oder sie sorglos behandelt. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass genügend Menschen die Gelegenheit ergreifen werden, möglichst alles zu zerstören, was sie zerstören können, solange sie dafür keine negativen Folgen spüren.

Der Lehrer, mit dem ich über das Problem sprach, hatte seine Großzügigkeit hinter sich gelassen. Er forderte, dass die Eltern für die Schulbücher eine Leihgebühr bezahlen und wenn die Kinder das Buch beschädigen, dann den vollen Kaufpreis.

Ich fragte ihn, wie Eltern mit einem geringen Einkommen die Leihgebühr bezahlen sollten – und die ganzen anderen Gebühren, die er sich inzwischen für andere Schulbelange überlegt hatte; er war auch für die Lagerung der Schulmöbel zuständig. Er meinte, einkommensschwache Kinder könnten auch von privaten Stiftungen gefördert werden, gab aber zu, dass dies ein Problem darstellen könne. Tatsache ist jedoch: Wer sich Kinder nicht leisten kann, soll vernünftigerweise auf Kinder oder zu viele Kinder verzichten. Andere Eltern über die Umwege von Steuern für die Zerstörungslust der eigenen Kinder zahlen zu lassen, ist unethisch.

Die Wikipedia-Beispiele

Der Fischereiökonom Rognvaldur Hannesson befasst sich mit der Privatisierung der Meere
Der Fischereiökonom Rognvaldur Hannesson befasst sich mit der Privatisierung der Meere

Ich soll mir die Beispiele auf Wikipedia anschauen, wenn ich nicht glaube, dass es das Gefangenendilemma in der Realität so gibt, meinte der Volkswirt Ulrich Berger. Also habe ich das nunmehr getan. Hier meine Antworten (ähnliche Fälle ausgelassen):

1. Aufrüstung

Vereinbaren beispielsweise zwei Länder eine Rüstungskontrolle, so wird es immer individuell besser sein, heimlich doch aufzurüsten. Keines der Länder hält sich an sein Versprechen und beide sind durch die Aufrüstung schlechter gestellt (höheres Gefahrenpotential, höhere ökonomische Kosten), allerdings besser, als wenn nur der jeweils andere aufrüstete (Gefahr einer Aggression durch den anderen).

Eines der verfeindeten Länder ist nicht schlechter gestellt als das andere, wenn es erst einmal genügend aufgerüstet hat, um binnen einer Woche in der feindlichen Hauptstadt zu stehen. Irgendwann bringt die Aufrüstung keinen Mehrwert mehr („Gesetz des abnehmenden Ertrags“).

Die USA konnten die Sowjetunion mit Atombomben zerbröseln und umgekehrt. Ronald Reagan machte sich diesen weit verbreiteten Denkfehler, der von Wikipedia angeführt wird, dennoch zu Nutze und rüstete massiv auf, bis die Sowjetunion aufgrund ihrer ökonomischen Schwäche nicht mehr gleichziehen konnte und endgültig Pleite ging. Davon abgesehen hat dieses Beispiel eigentlich nichts mit dem Kapitalismus zu tun und nur innerhalb des Kapitalismus gilt die Harmonie der Interessen.

2. Politikverflechtungsfalle

Das Konzept der Politikverflechtungsfalle deutet darauf hin, dass in den gegebenen Verflechtungsstrukturen nicht nur eine Blockadesituation in Sachentscheidungen vorliegt, sondern dass auch institutionelle Änderungen unmöglich sind, die eine Entflechtung des Mehrebenensystems zur Folge hätten.

Das liegt daran, dass bei einer anstehenden Verfassungsänderung solche Akteure als potenzielle Vetospieler auftreten, die von der Verflechtung profitieren – im deutschen Föderalismus sind dies konkret die Landesregierungen. Die Politikverflechtungsfalle ist also nicht die Blockade durch Vetospieler in der täglichen Entscheidungsfindung, sondern die Unfähigkeit des politischen Systems, institutionelle Änderungen zur Auflösung dieser Blockaden herbeizuführen.

Ist die Blockadepolitik wirklich im aufgeklärten Eigeninteresse der Betroffenen? Nur, wenn man davon ausgeht, dass Länder und Bund zwei verfeindete Parteien sind, die sich gegenseitig ausbeuten wollen. Bei öffentlicher Finanzierung kommt so etwas heraus, aber eben nicht im Kapitalismus, der auch mit diesem Beispiel nichts zu tun hat.

 3. Kartelle

Auch in der Wirtschaft finden sich Beispiele für das Gefangenendilemma, etwa bei Absprachen in Kartellen oder Oligopolen: Zwei Unternehmen vereinbaren eine Outputquote (zum Beispiel bei der Ölförderung), aber individuell lohnt es sich, die eigene Quote gegenüber der vereinbarten zu erhöhen. Beide Unternehmen werden mehr produzieren. Das Kartell platzt. Die Unternehmen im Oligopol sind aufgrund der erhöhten Produktion gezwungen, die Preise zu senken, wodurch sich ihr Monopolgewinn schmälert.

Aus dem Szenario folgt, dass die Einhaltung von Verträgen im aufgeklärten Eigeninteresse der Marktakteure ist. Und das können sie sehr wohl vorher wissen und in der Tat sagt die objektivistische Philosophie nichts anderes.

 4. Erhöhung der Werbeausgaben

Konkurrieren mehrere Firmen auf einem Markt, erhöhen sich die Werbeausgaben immer weiter, da jeder die anderen ein wenig übertreffen möchte. Diese Theorie konnte 1971 in den USA bestätigt werden, als ein Gesetz zum Werbeverbot für Zigaretten im Fernsehen verabschiedet wurde. Es gab kaum Proteste aus den Reihen der Zigarettenhersteller. Das Gefangenendilemma, in das die Zigarettenindustrie geraten war, wurde durch dieses Gesetz gelöst.

Erneut: Gesetz des abnehmenden Ertrags. 

5. Betrug

Ein weiteres Beispiel ist ein Handelsreisender, der seine Kunden bei Vorkasse (gegebenenfalls ungedeckte Schecks) mit guter Ware (kleinerer Profit, aber langfristig sicher) oder gar keiner Ware (hoher kurzzeitiger Profit) beliefern kann. Händler mit schlechtem Ruf verschwinden in solchen Szenarien vom Markt, da keiner mit ihnen Geschäfte macht, und sie ihre Fixkosten nicht decken können. Hier führt „Tit for Tat“ zu einem Markt mit wenig „Betrug“. Ein bekanntes Beispiel nach diesem Muster ist die Funktionsweise des eBay-Bewertungsschemas: Händler, die trotz erhaltener Bezahlung die vereinbarte Ware nicht liefern, erhalten schlechte Bewertungen und verschwinden so vom Markt.

Also lohnt es sich nicht, Menschen zu betrügen. Erneut ein Beispiel, das vom Homo Oeconomicus ausgeht, der sich nicht an rationalen Prinzipien orientiert (wie es die objektivistische Ethik vorsieht), sondern am unmittelbaren Eigeninteresse. Er bekommt auf kurze Sicht mehr Geld und verschwindet auf lange Sicht vom Markt. Offensichtlich ist ein solches Verhalten nicht im aufgeklärten Eigeninteresse und ficht schon gar nicht die objektivistische Ethik oder den Kapitalismus an – im Gegenteil!

Fazit

Das Gefangenendilemma zeigt in einigen Fällen auf, dass das situationsabhängige Handeln im individuellen Eigeninteresse ohne Orientierung an allgemeinen Prinzipien und Tugenden im Ergebnis nicht wirklich den individuellen Nutzen maximiert.

Daran zweifelt die objektivistische Ethik nicht. Im Gegenteil hält sie das situationsabhängige Abwägen, was im Eigeninteresse ist und was nicht, für unmöglich und hat gerade darum allgemeine Handlungsrichtlinien entwickelt. Das Gefangenendilemma kann weder dem Kapitalismus, noch der objektivistischen Ethik etwas anhaben. Mir ist ferner kein Philosoph bekannt, der heutzutage eine dermaßen simple und geradezu alberne Variante des Egoismus befürwortet, wie sie das Modell des Homo Oeconomicus der neoklassischen Ökonomik zum Gegenstand hat.

27 Kommentare zu „Widerlegt das Gefangenendilemma den Egoismus?

  1. Wie sie formuliert ist, würde ich dieser Aussage zustimmen. In der Tat führt das Handeln im kurzfristigen Eigeninteresse weder zum eigenen Wohl noch zum Wohl irgendeiner Gruppe. Das sieht die objektivistische Ethik ebenso. Im Grunde wüsste ich gerne, welcher Moralphilosoph das anders sieht oder jemals anders gesehen hat.

    Schön formuliert!

    MFG
    Dr. W (der sich den Rest des Artikels sparen kann, das Gefangenendilemma taugt nicht als Begründung dafür, dass die Einzelinteressen grundsätzlich gelenkt werden sollen)

  2. Nach einigem Überlegen wäre ich bereit gewesen, 69ct zu zahlen. Leider muss man bei Cleeng erstmal 5,-EUR zahlen, und da mir Cleeng bislang noch nie begegnet ist außer hier, und ich bislang auch nicht das Bedürfnis hatte, hier einzukaufen, kippt die Waagschale doch wieder auf Nichtkauf. Da steckt auch meine gewisse prinzipielle Abneigung gegen Prepaid-Eintagesfliegen dahinter.

    Siehst du einen Weg für mich, anders an deinen Artikel zu kommen?

    1. Es ist mir ehrlich gesagt neu, dass man da als Leser fünf Euro bezahlen soll. Ich weiß, dass ich eine Menge an Abgaben zu leisten habe an Cleeng, aber die Leser? Wo steht das denn?

      Ansonsten: Ich verwende Cleeng bereits für eine ganze Reihe von Bezahlartikeln und auch zukünftig. Eine alternative Methode, an die Bezahlartikel zu kommen, gibt es aktuell nicht, wird es aber geben, weil die alle in ein zukünftiges eBook wandern werden.

      1. Wir haben uns missverstanden. Man muss bei Cleeng sein Konto mit 5,- EUR auffüllen. Prepaid. Da ich aber nicht sehe, wo ich die restlichen 4,71 EUR loswerde und mir das Geld bei Auflösung des Kontos nicht rückerstattet wird, drohen diese 5 EUR im Netz zu versickern.

        Und nein, ich habe nach aktuellem Stand auch nicht vor, mir alle Müller-Artikel zu kaufen, weder hier noch als Ebook. Ich wär grad nur bereit, für deine Ausführungen zum Gefangenendilemma 69ct zu zahlen.

      2. Wäre mir aber auch neu. Cleeng bietet diese drei Optionen:

        €0.49 Artikel XYZ | Feuerbringer-Magazin
        €5.00 credits to buy this item and save on your next purchases(?)
        €10.00 credits to buy this item and save on your next purchases(?)

        Du sprichst von der zweiten Option als gäbe es die erste nicht…

        1. Ja, Cleeng arbeitet mit einem alternativen Credits-System, das sich für jene auszahlen kann, die viel Cleeng-Artikel lesen. Da Cleeng in Deutschland aber eher unbekannt ist (es ist eine Spezialität von WordPress-Blogs in zumeist englischer Sprache), habe ich die optionale Credit-Option bei den Artikeln deaktiviert und übrig bleiben die beiden Möglichkeiten, direkt Credits zu kaufen. Übrigens sitzen die Cleeng-Macher in den Niederlanden, das ist ein europäisches Start-Up.

          Kurz gesagt kann man das einfach alles ignorieren und den Zugriff auf den Artikel direkt via PayPal oder einer anderen Option kaufen.

  3. Oooh, wir nähern uns!
    Bei mir war / ist „Kaufe diesen Artikel“ grau hinterlegt.
    Daraus hab ich geschlossen, dass ich ihn noch nicht kaufen kann, sondern erst Credits brauche.
    Aber nein, ich kann auch darauf klicken.

    Es tut mir aufrichtig leid, hier so einen Wirbel gemacht zu haben.
    Ähem.

  4. Ich widerspreche ja ungern (haha, Scherz!), aber hier halte ich ein paar Anmerkungen für angebracht:

    1. Der Titel ist unglücklich gewählt. Widerlegen kann man nur Behauptungen. „Der Egoismus“ ist keine Behauptung.

    2.

    In der Tat führt das Handeln im kurzfristigen Eigeninteresse weder zum eigenen Wohl noch zum Wohl irgendeiner Gruppe. Das sieht die objektivistische Ethik ebenso.

    Das Gefangenendilemma (GD) hat nichts mit „kurzfristigem“ vs. „langfristigem“ Eigeninteresse zu tun. Das ist ein Irrtum von Peter Singer und eignet sich daher nicht als Kritik am GD.

    3.

    Da die Gefangenen nicht wissen, was der jeweils andere tun wird, ist diese Strategie [Kooperation] zu riskant und die am wenigsten riskante Strategie unter diesen Umständen ist die Defektion.

    Doppelt falsch. Im GD gibt es kein Risiko. Defektieren ist für den einzelnen Spieler besser als Kooperieren, egal was der Gegner tut. Daher werden beide Spieler defektieren und beide wissen auch, dass der jeweils andere das tun wird.

    4.

    Die Implikation ist, dass wir manchmal in unserem eigenen Interesse entgegen dem handeln sollten, was uns vernünftigerweise als unserem eigenen Interesse dienlich erscheint.

    Nein. Entgegen dem zu handeln, was mir vernünftigerweise als meinem eigenen Interesse dienlich erscheint, fördert nicht mein eigenes Interesse, sondern lediglich das Gruppeninteresse – und selbst das nur, wenn es mein Gegner ebenfalls tut. Konkret: (C,D) bringt mir 6 Jahre, schlecht. (C,C) bringt mir 2 Jahre, was zwar nicht übel ist, aber dennoch schlechter als (D,C), was mir nur 1 Jahr bringt.

    5.

    Zum Glück kommt das Gefangenendilemma in Reinform praktisch nicht im Leben eines Durchschnittsmenschen vor. […] Das Gefangenendilemma wird als Argument gegen das Handeln im rationalen Eigeninteresse angeführt. In der Praxis findet man es als Trittbrettfahrerproblem bei Gemeingütern vor.

    Na wie jetzt? Kommen Gemeingüter nicht im Leben eines Durchschnittsmenschen vor?

    Das bedeutet, es bezieht sich gerade nicht auf den Kapitalismus, wo sich die Produktionsfaktoren in Privateigentum befinden.

    In der echten Welt (also der, in der der Durchschnittsmensch lebt) gibt es aber keinen Kapitalismus dieser Art, der ohne Gemeingüter auskommen würde.

    Dein Argument klingt für mich so, dass das GD bzw. das Trittbrettfahrerproblem im Alltag keine Rolle spielt, weil es im idealisierten reinen Kapitalismus keine Rolle spielen würde. Das kannst du doch nicht ernsthaft meinen, oder?

    6.

    Vielmehr wurde das Trittbrettfahrerproblem häufig als einer der Gründe für das Scheitern des Sozialismus angeführt: Wenn jeder bekommt, was er benötigt, unabhängig davon, wie viel Arbeit er investiert, dann wird jeder möglichst wenig arbeiten und möglichst viel „benötigen“.

    Vollkommen richtig! Der Sozialismus hat in der Praxis ein GD konstruiert, und ist daran zugrunde gegangen. Und du sagst, das GD spielt im Alltag keine Rolle?!?

    7.

    Den Fischern ist das Problem der Überfischung bekannt und sie könnten sich mit anderen Fischern absprechen. Die Gefangenen wissen hingegen nicht, was der andere Gefangene tut, sie können sich nicht absprechen und sie können daher nicht das beste Ergebnis durch Kooperation erreichen.

    Falsch. Die Gefangenen wissen, was der andere tut (siehe 3. oben). Wenn sie sich absprechen könnten, würde das am Resultat nichts ändern, dazu müssten sie sich VERBINDLICH absprechen können, sprich sie müssten vor Gericht durchsetzbare Verträge schließen können. Das können die Gefangenen nicht, aber auch die Fischer in der Praxis nicht.

    8.

    Eines der verfeindeten Länder ist nicht schlechter gestellt als das andere, wenn es erst einmal genügend Waffen hat, um das feindliche Land platt zu bomben. Irgendwann bringt die Aufrüstung keinen Mehrwert mehr („Gesetz des abnehmenden Ertrags“).

    Na und? Wieso spricht das gegen das Beispiel der Aufrüstung als GD? Setze „Rüstungsstopp“ als „Kooperieren“ und „Aufrüsten bis ich den anderen platt machen kann“ als „Defektieren“. Schon ist es da, das Dilemma.

    9.

    Aus dem [Kartell-]Szenario folgt, dass die Einhaltung von Verträgen im aufgeklärten Eigeninteresse der Marktakteure ist. Und das können sie sehr wohl vorher wissen und in der Tat sagt die objektivistische Philosophie nichts anderes.

    Wo die Spieler Verträge schließen können, gibt es kein Dilemma, das ist bekannt. Das Kartellbeispiel ist genau deshalb relevant, weil Kartelle hierzulande illegal sind. Die Spieler können also keine Verträge schließen.

    10.

    Erneut: Gesetz des abnehmenden Ertrags.

    Das ist keine Antwort (siehe 8.). Genausogut könntest du entgegnen: „Zigaretten sind gesundheitsschädlich.“

    More to come, ich muss jetzt weg!

    1. Ja, ich verteidige den reinen Kapitalismus (Laissez-faire-Kapitalismus), der nirgendwo existiert, aber existieren könnte und im 19. Jahrhundert annähernd existierte. Warum sollte ich irgendetwas anderes verteidigen wollen? Und was?

      Widerlegen kann man nur Behauptungen. “Der Egoismus” ist keine Behauptung.

      Ethische Theorien kann man widerlegen in der Philosophie.

      Das ist ein Irrtum von Peter Singer und eignet sich daher nicht als Kritik am GD.

      Ich kritisiere das Gefangenendilemma auch nicht als solches. Ich kritisiere es als Argument gegen den Kapitalismus (Politik) und Egoismus (Ethik). Steht ja auch da.

      sondern lediglich das Gruppeninteresse – und selbst das nur, wenn es mein Gegner ebenfalls tut

      Was sagt denn das Dilemma deiner Interpretation zufolge aus? Wie soll ich mich verhalten in einer solchen Dilemmasituation? Die Kooperation scheint doch die bestmögliche Strategie zu sein, denn man wird den anderen kaum überzeugen, sich für einen aufzuopfern. Das Modell als rein ökonomisches Modell ist eben nur ein Modell. Das sagt eigentlich gar nichts für das praktische Leben der Menschen aus, es gibt keine Handlungsanweisung. Aber die Lehre, die gemeinhin daraus gezogen wird, scheint doch zu sein, dass wir kooperieren sollten, anstatt egoistisch zu sein.

      Na wie jetzt? Kommen Gemeingüter nicht im Leben eines Durchschnittsmenschen vor?

      In Reinform ist es selten. Sonst könnten wir es ja auch nicht lösen. Wir wären einfach dem Dilemma ausgesetzt und fertig.

      Dein Argument klingt für mich so, dass das GD bzw. das Trittbrettfahrerproblem im Alltag keine Rolle spielt, weil es im idealisierten reinen Kapitalismus keine Rolle spielen würde. Das kannst du doch nicht ernsthaft meinen, oder?

      Nein. Es tritt gerade darum gelegentlich auf, weil kein reiner Kapitalismus herrscht.

      Und du sagst, das GD spielt im Alltag keine Rolle?!?

      In sozialistischen Ländern schon. Im Alltag eines Durchschnittseuropäer und -Amerikaner, etc. unserer Zeit ist es seltener anzutreffen.

      Das können die Gefangenen nicht, aber auch die Fischer in der Praxis nicht.

      Im Gegensatz zum fixen Modell kann man so etwas in der Praxis ändern.

      Setze “Rüstungsstopp” als “Kooperieren” und “Aufrüsten bis ich den anderen platt machen kann” als “Defektieren”. Schon ist es da, das Dilemma.

      In der Realität gibt es auch Spione und Überwachung. Wir wissen, wenn sich der Gegner nicht an die Abrüstung hält und das ist gefährlich für ihn.

      Das Kartellbeispiel ist genau deshalb relevant, weil Kartelle hierzulande illegal sind. Die Spieler können also keine Verträge schließen.

      Im reinen Kapitalismus wären (und waren) Kartelle nicht illegal. So könnte man das Problem lösen.

      Genausogut könntest du entgegnen: “Zigaretten sind gesundheitsschädlich.”

      Sind sie auch.

      Ich weiß nicht, was du glaubst, wozu meine Argumentation dient. Wenn du glaubst, ich hätte ein Problem mit dem mathematischen Modell des Gefangenendilemmas innerhalb der Spieltheorie – natürlich nicht. Ich habe ein Problem damit, wenn es als Argument gegen den Egoismus (Handeln im aufgeklärten Eigeninteresse) als ethische Theorie und gegen den Kapitalismus als politisches System angeführt wird.

    2. Defektieren ist für den einzelnen Spieler besser als Kooperieren, egal was der Gegner tut. Daher werden beide Spieler defektieren und beide wissen auch, dass der jeweils andere das tun wird.

      Aber nur, wenn man sich nicht wieder trifft und wenn andere Konditionierungen (wir erinnern uns „Mafia“, Familie und so).

      Es handelt sich beim GD um ein konstruiertes Dilemma, das genau dann funktioniert, wenn die Beteiligten – asozial sind.

      Ähnlich wie beim sogenannten Wahlparadoxon, das Sie nicht sozial einzuordnen vermochten oder wollten.

      Jede im bekannten Sinne, die allgemeine Koooperation meinend, verallgemeinernde Argumentation, die Asozialität bezogen auf Kooperationsfähige behauptet, ist unzureichend oder falsch.

      Mathematisch korrekt, aber nicht der Sachlage angemessen.

      MFG
      Dr. W

  5. Ich weiß nicht, was du glaubst, wozu meine Argumentation dient.

    Das ist das Kernproblem! Ich weiß auch nicht, was ich glauben soll, wozu deine Argumentation dient. Sie springt wild hin und her zwischen verschiedensten Aspekten und beruht zur Hälfte auf falschen Prämissen. Im Moment dient sie am ehesten der Verwirrung.

    Streich einmal das (deplatzierte) „kurzfristig“ aus Singers Zitat am Anfang. Kannst du dem Zitat dann immer noch zustimmen? Wenn ja, dann wird es für dich schwierig, gleichzeitig den ethischen Egoismus verteidigen. Wenn nein, was genau macht Singers Aussage dann falsch?

    1. Ich Zweifelsfall ist der andere verwirrt. Dr. Webbaer hat versucht zu erklären, warum das Gefangenendilemma ein konstruiertes Modell ist, das sich in Reinform nur selten auf die Realität übertragen lässt. Wo es sich übertragen lässt (Tragedy of the Commons) haben wir es mit Problemen zu tun, die der Laissez-faire-Kapitalismus lösen könnte.

      Ist es im politischen System, in dem wir leben, immer im Eigeninteresse, im Eigeninteresse (im ökonomischen Sinne) zu handeln? In bestimmten Fällen – bei öffentlichen Gütern (Schulen, Museen) und Gesellschaftlichen Ressourcen (natürliche Umwelt) – offensichtlich nicht. Dieses „kurzfristig“ und „langfristig“ scheint eher zur Verwirrung beizutragen. Also, ich stimme dir zu. Wenn ich das darf, ohne dass du mir widersprichst.

      Nur: Was hat das alles mit der objektivistischen Tugendethik zu tun? Diese Ethik ist kein rationalistisches Konzept – die Art, wie du ökonomische Modelle anwendest, ist purer Rationalismus (aus Prämisse A folgt Schlussfolgerung B, egal, was die Beobachtung des realen Lebens dazu sagt) – sondern es sind Verhaltensrichtlinien für individuelle Menschen für ihr alltägliches Leben innerhalb einer modernen Zivilisation. Tugenden eben. Du hast bestimmt schon von Tugenden gehört.

      Um die objekt. Ethik zu widerlegen, ist es eine zwecklose Übung, sich auf eine situative Anwendung des ökonomischen „Eigeninteresses“ zu versteifen. Das eigene Leben ist der Maßstab der objektivistischen Ethik und wir sollten in dem Sinne im Eigeninteresse handeln, dass wir unserem eigenen Leben dienen. Aus der Lebenserfahrung, Alltagsbeobachtung, einem Verständnis der menschlichen Natur und der Welt, die uns umgibt, mit Hilfe logischen Denkens, kann man folgern, dass eine Orientierung an bestimmten Tugenden wie Ehrlichkeit und Produktivität diesem Zweck dient. Wenn das, was dein ökonomisches Modell „Kooperation“ nennt, unserem eigenen Leben dient, dann sollten wir in solchen Fällen eben kooperieren.

      Kooperation zum gegenseitigen Vorteil ist im Eigeninteresse. Genau das besagt das Händlerprinzip. Du meinst nun, das Dilemma zeige, dass die Kooperation nur im Gruppeninteresse sei, dem individuellen „Eigeninteresse“ aber unter anderen Konstellationen (wenn sich der andere aufopfert) mehr gedient wäre. Aber nun kommen wir zur Realität und hier sollte man sich fragen, warum sich irgendwer aufopfern sollte, um unserem „Eigeninteresse“ zu dienen – und wie eine Gesellschaft, die auf dem Prinzip der Aufopferung mancher für andere beruht (wie die Sowjetunion und Nazi-Deutschland), im Interesse von letztendlich irgendwem sein kann? Wer bestimmt, wer zu opfern ist? Warum sollte einen das nicht irgendwann selbst treffen?

      Vergiss einfach mal das Ganze, falls du daran interessiert bist, die objektivistische Ethik zu kritisieren, und versuchte stattdessen zu erklären, was daran, was ich im Philosophie-Bereich zum Thema geschrieben habe, falsch sein soll:

      Die objektivistische Ethik

      Maßstab: Das menschliche Leben
      Der ethische Maßstab ist das, wozu die Ethik dient und von ihm sind Werte abgeleitet.

      Werte: Vernunft, Zwecksetzung (= Zielgerichtetheit des eigenen Lebens), Selbstvertrauen.
      Werte sind das, was wir im Leben anstreben sollten.

      Tugenden: Rationalität, Unabhängigkeit, Integrität, Ehrlichkeit, Gerechtigtkeit, Produktivität, Stolz und Wohlwollen (laut David Kelley).
      Tugenden sind die Methoden, mit denen wir unsere Werte erreichen können.

      Wenn wir uns rational, unabhängig, integer, ehrlich, gerecht, produktiv, stolz und wohlwollend verhalten, so erreichen wir Vernunft, ein Ziel im Leben und Selbstvertrauen. Haben wir Vernunft, Zwecksetzung, Selbstvertrauen, so haben wir die Werte erreicht, die unserem Leben als Mensch dienen.

      Schlussfolgerung: Wir orientieren uns an Tugenden, um Werte zu erhalten, die unserem Leben dienen.

      Nähere Erklärung der Tugenden:
      http://objektivismus.de/2Studium/S08Tugenden.htm

      Wie man die objektivistische Ethik widerlegen kann

      Was du jetzt eigentlich tun müsstest, ist zu erklären, warum wir stattdessen irrational sein sollen, warum wir abhängig sein sollen, unehrlich, ungerecht, unproduktiv, demütig und asozial. Du müsstest erklären, warum wir nicht die Werte der Vernunft, eines Ziels im Leben und Selbstvertrauen anstreben sollten, sondern Unvernunft, Ziellosigkeit und Selbstherabsetzung. Am Ende müsstest du erklären, warum wir uns nicht so verhalten sollten, dass unser Verhalten unserem eigenen Leben dient. Entweder das, oder du müsstest erklären, warum die Tugendethik generell keine gute Ethik ist, sondern stattdessen der Utilitarismus, die Pflichtethik, etc.

      Und genau das wird gewöhnlich auch von anderen Ethikern versucht. Aber nicht von dir. Dir ist das offenbar reichlich egal, was unsere Ethik eigentlich besagt und du versteifst dich darauf, dass man in bestimmten Situationen nicht im Homo-Oeconomicus-Sinne handeln sollte. Was ich gar nicht bestreite. Und was auch ansonsten niemand bestreitet. Und was zwar ökonomisch relevant ist und über die Lösungsmöglichkeiten kann man reden – aber was meine Philosophie im Grunde gar nicht anficht.

  6. Ich will die objektivistische Ethik ja gar nicht widerlegen. Das meiste davon unterschreibe ich ohne weiteres. Aber deine Kurzfassung ist eine Schönfärbung, in der der heikle Punkt der objektivistischen Ethik gar nicht vorkommt: Der Egoismus als Tugend.

    Der ethische Egoismus wird, so mein Eindruck, vorausgesetzt, und nicht begründet. Dort, wo es Versuche einer Begründung gibt, sind sie schwach. (Z.B. ist – berechtigte – Kritik am ethischen Altruismus noch lange keine legitime Begründung des Egoismus.)

    Nun dachte ich ursprünglich, der Egoismus würde im Objektivismus dadurch gerechtfertigt, dass man behauptet, individueller Egoismus födere stets das Gemeinwohl. Diese Behauptung ist aber falsch, wie das GD zeigt, und damit hat Singer also recht: „Die individuelle Verfolgung des Eigeninteresses kann kollektiv selbstzerstörerisch sein.“ (Die Anmerkungen des Webbären sind hier irrelevant, er glaubt offensichtlich, das GD handle von asozialen Leuten, die sich nur einmal treffen. Ich habe schon in extensio erklärt, warum das falsch ist.)

    Inzwischen glaube ich, dass das GD den ethischen Egoismus nicht widerlegt, weil dieser die obige Argumentation gar nicht verfolgt. Der ethische Egoismus wird gar nicht dadurch begründet, dass das stete Verfolgen des Eigeninteresses zugleich dem Gemeinwohl diene (die übliche Bedeutung des Begriffs „Interessensharmonie“, die aber, wie ich gelernt habe, im Objektivismus was anderes meint) – dem ethischen Egoisten ist das Gemeinwohl offenbar einfach egal.

    Ich bin also gerne bereit, zuzugestehen, dass das GD den ethischen Egoismus in diesem Sinne nicht widerlegen kann. Ebensowenig natürlich wie Hinweise auf Marktversagen – wenn mich die ökonomische Ineffizienz und die überhöhten Preise eines Kartells gar nicht stören, dann ist der Hinweis auf diese Ineffizienz natürlich vergebliche Mühe.

    Damit bleibt aber immer noch die Frage: wieso? Wieso sollte ich Egoismus als Tugend akzeptieren? Bisher habe ich in all den Objektivismus-Texten (und ich habe inzwischen mehr dazu gelesen als meine Zeit eigentlich erlaubt) noch kein plausibles Argument dafür entdeckt.

    1. Im vorletzten Absatz sollte es heißen: „Ebensowenig natürlich wie Hinweise auf Marktversagen den objektivistischen Kapitalismus widerlegen können – wenn mich die ökonomische Ineffizienz …“

    2. 1. Die Tugenden dienen dem rationalen Eigeninteresse.

      2. Wie man vom „Sein“ zum „Sollen“ gelangt (das ist kein Fehlschluss, nur weil es von vielen so bezeichnet wird), steht auch im gerne ignorierten Philosophiebereich:
      http://www.feuerbringer-magazin.de/philosophie/ethik/

      3. Wohlwollen gehört zu den objektivistischen Tugenden, also weiß ich nicht, was du immer mit dem Gemeinwohl und „anderen helfen ist doch keine Versklavung“, etc. hast.

      1. 1. Sag das Ayn Rand! http://en.wikipedia.org/wiki/The_Virtue_of_Selfishness

        2. Ja, den kenne ich. Aber die Schlussfolgerungen dort kann ich nicht nachvollziehen. Ich halte das für einen exemplarischen Fehlschluss.

        3. „Versklavung“ ist ein Zitat aus dem Argument von sba. Die Ablehnung des Egoismus zieht aber nicht notwendig die Selbstversklavung oder den ethischen Altruismus nach sich, deshalb halte ich das Argument für ungültig.

        1. Gut, die anderen Tugenden dienen der Tugend des Egoismus. Man könnte auch sagen, sie sind egoistische Tugenden.

          Ich schreibe noch einen Essay mit der Argumentation für die Sein-Sollen Angelegenheit. Dass unsere Ethik auf den Tatsachen der Realität beruhen sollte, der Idee wirst du doch nicht zu atagonistisch gegenüberstehen.

      2. Lieber Herr Müller, das ist schon ein Mops:

        Wie man vom “Sein” zum “Sollen” gelangt (das ist kein Fehlschluss, nur weil es von vielen so bezeichnet wird), steht auch im gerne ignorierten Philosophiebereich:
        http://www.feuerbringer-magazin.de/philosophie/ethik/

        MFG
        Dr. W (der Herrn Berger immer nur ungerne recht gibt – aber man gelangt hier zum Veranstaltungskern, dem Objektivismus, den Ihnen eigentlich auch niemand nehmen will)

  7. „Wieso sollte ich Egoismus als Tugend akzeptieren?“
    Zwei Bemerkungen vorweg: Eher weniger als Tugend und eher mehr als, hm, Entscheidung (darüber, zu wessen Wohle die eigenen Handlungen warum zu dienen haben); zum Anderen, und das Problem taucht hier seit Ewigkeiten immer mal wieder auf, ist „Egoismus“ eine nicht wirklich treffende aber mangels sinnvoller Alternativen standardmäßig verwendete Übersetzung des O-Text-Terms „Selfishness“.
    Rand in meiner Übersetzung dazu:
    „Im Populären Gebrauch steht das Wort „selfishness“ synonym für „böse“; das Bild, das es beschwört, ist jenes eine mörderischen Barbaren, der über Berge von Leichen stapft, um seine Ziele zu erreichen, der sich um kein lebendes Wesen kümmert und nichts anderes sucht, als die gedankenlosen Launen jedes Einzelnen Momentes.
    Jedoch lautet die exakte Bedeutung und Wörterbuchdefinition des Wortes „selfishness“: sich um seine eigenen Interessen kümmern.
    Dieses Konzept beinhaltet keine moralische Bewertung; es sagt uns nichts darüber, ob es gut ist oder schlecht, sich um seine eigenen Interessen zu kümmern; auch nicht, was eines Menschen tatsächliche Interessen ausmacht. Es ist die Aufgabe der Ethik, diese Fragen zu beantworten.“
    (The Virtue of Selfishness. Introduction. S. vii; Italics i.O.)

    Naja, und die objektivistische Ethik hat dann den Vorzug, ihre Voraussetzungen selbst zu schaffen, indem sie sie nicht ignoriert; nämlich, dass, sofern es in irgendeiner Weise um die Frage geht, wie wir leben sollten, Voraussetzung ist, dass wir überhaupt erstmal leben und weiter leben und damit auch überleben (als Mensch zu leben ist quasi die absolute Basis-Prämisse der objektivist. Ethik).
    Wieder Rand:
    „Die Gründe dafür, dass man einen moralischen Codex braucht, werden ihnen aufzeigen, dass der Zweck von Moralität darin besteht, für einen Menschen [für ein Leben als Mensch] geeignete Werte und Interessen zu definieren, dass es die Essenz einermoralischen Existenz ausmacht, sich um seine Interessen zu kümmern, und, dass [jeder] Mensch [selbst] der Nutznießer seiner eigenen moralischen Handlungen sein muss.“
    (ebd. S. x)
    Nach diesen Gründen haben Sie ja nun eben gefragt. Die Linie ist etwas länger und geht von der Definition von Ethik als „Codex von Werten, der dazu dient, eines Menschen Entscheidungen und Handlungen anzuleiten – jene Entscheidungen und Handlungen, die Sinn und Verlauf seines Lebens bestimmen.“
    (Essay „The Objectivist Ethics“, ebd. S. 13ff, S. 13)

    über die Definition von Werten und Begründung des Bedarfes daran:
    „“Wert“ ist, was zu bekommen und/oder zu behalten man handelt (Aufwand betreibt). Das Konzept des Wertes ist aber nicht primär. Es setzt die Antwort auf die Frage „Von Wert für wen und wofür?“ voraus. Es setzt ein Wesen voraus, das in der Lage ist, zu handeln und angesichts einer Alternative ein Ziel zu erreichen. Wo es keine Alternativen gibt, sind Werte und Ziele nicht möglich… Nur ein lebendes Wesen kann Ziele haben oder setzen. Und nur ein lebender Organismus hat die Kapazitäten für selbstgeschaffene und zielgerichtete Handlungen. Auf der körperlichen Ebene handelt es sich bei den Grundfunktionen aller lebenden Organismen … Handlungen, die der Organismus selbst hervorbringt, und die nur einem einzigen Ziel dienen: Der Erhaltung seines Lebens.
    Das Leben eines Organismus hängt von zwei Faktoren ab: Dem Material von außen … und vom Verhalten seines Körpers, dem Verhalten, dieses Material in geeigneter Weise zu verwenden. Nach welchem Standard ist „in geeigneter Weise“ in diesem Kontext festzulegen? Der Standard ist das Leben des Organismus; oder: Dasjenige, wessen es bedarf, damit er überleben kann.“
    (ebd. S. 16f)
    Ich hoffe, Geduld und Phantasie nicht überzustrapazieren, wenn ich jetzt die Seiten überspringe, auf denen diese Allgemeinaussagen zu Lebewesen auf den Menschen spezialisiert werden, und komme gleich auf den Punkt, der mit ein bisschen Kant im Rücken bekannt vorkommen könnte:
    „Das grundlegende soziale Prinzip der objektivistischen Ethik lautet, dass, so, wie das Leben ein Zweck an sich selbst ist, auch jeder lebende Mensche ein Zweck an sich selbst ist und nicht Mittel für die Zwecke oder die Wohlfahrt anderer, und daher, dass man sein Leben sich selbst zu gute leben muss, ohne sich für andere aufzuopfern oder andere für sich.“
    (S. 30)
    Soweit mein Versuch, einen 26-Seiten-Essay sicher nicht ganz kunstgerecht zielgerichtet zusammenzukochen.

    Heißt jetzt 1.: Jeder soll und darf seinen eigenen Zielen und Interessen nachgehen – auf zivilisierte Weise, ohne andere ohne deren Einwilligung einzuspannen oder ihnen zu schaden.
    Heißt 2.: „Gemeinwohl“ ist eine Abstraktion aus vielen Spezialwohlen. Denen absichtlich, zielgerichtet und gar noch gemäß irgendeiner „Pflicht“ zu dienen, wäre, sich in Sklaverei zu begeben. Hingegen aber ist eine Steigerung der Lebensqualität aller Beteiligten durchaus unter den realitisch erwartbaren Folgen einer aufgeklärt(!) egoistischen Gesellschaft. Jeder kümmert sich um sich und die, die ihm wichtig sind (auf zivilisierte, kooperative, friedliche Art und Weise), alle gewinnen (ohne, dass irgendjemand letzteres eigens anvisieren müsste, sondern weil und wenn einfach niemand bereit ist, irgendetwas mitzumachen, wobei er verliert.)

    1. Auf der körperlichen Ebene handelt es sich bei den Grundfunktionen aller lebenden Organismen … Handlungen, die der Organismus selbst hervorbringt, und die nur einem einzigen Ziel dienen: Der Erhaltung seines Lebens.

      Das ist so, wie es da steht, natürlich falsch. Aber ganz unabhängig davon: selbst wenn es wahr wäre, scheint mir diese „evolutionäre“ Argumentation nur ein plumper naturalistischer Fehlschluss zu sein. Die Kurzfassung davon ist dieser Syllogismus:

      „(1) Lebewesen leben nur deshalb, weil sie durch ihr Handeln dem eigenen Leben dienen.
      (2) Der Mensch ist ein Lebewesen.
      (3) Also sollte jeder Mensch seinem eigenen Leben dienen.“

      Wie gesagt: (1) ist falsch. (3) ist ein naturalistischer Fehlschluss, der auch dann ungültig wäre, wenn (1) wahr wäre. Das wusste aber schon Hume (das mit (3), nicht das mit (1)). Ich kann mir nicht vorstellen, dass Objektivisten damit durchkommen.

      Übrigens kenne ich einige Personen, die einen Teil ihrer Zeit damit verbringen, dem Gemeinwohl zu dienen. Diesen zu erklären, sie würden sich „in Sklaverei begeben“, erscheint mir doch ein wenig absurd.

      1. step by step: Wie gesagt, habe ich extrem komprimiert. Habe dabei u.a. diejenige Fußnote ausgespart, die sich auf exakt die von Ihnen bemängelte Stelle bezieht. Bleibt nur die Frage, ob die Fußnote Ihren Einwand beantwortet:
        „Auf physische Phänomene wie die automatischen Fuktionen von Organismen bezogen, ist der Ausdruck „zielgerichtet“ nicht als „absichtlich“ (ein Konzept, das nur auf die Aktionen eines Bewusstseins anwendbar ist) zu verstehen und soll nicht die Existenz irgendwelcher nicht wahrnehmbarer teleologischen Prinzipien implizieren. Ich (Rand) benutze den Ausdruck „zielgerichtet“ in diesem Zusammenhang, um anzuzeigen, dass es sich bei den automatischen Funktionen lebender Organismen um Aktionen [bzw. Verhalten) handelt, deren Natur so beschaffen ist, dass sie in der Erhaltung des Lebens eines Organismus resultieren.“
        (Fußnote S.17)

        Der Naturalistische Fehlschluss…gibt es hier einen Artikel von Andreas zu:
        http://www.feuerbringer-magazin.de/2012/07/26/warum-moral-objektiv-ist/

        Mein eigener Standardeinwand lautet, dass die objektivistische Ethik auf technischem Niveau arbeitet: Wenn Du (weiter) leben willst, so solltest Du aufgrund der Natur des Universums dieses und jenes tun und dieses und jenes dringend unterlassen. Ob Du (weiter) leben willst, ist allerdings Deine Entscheidung.

        Der Syllogismus lässt sich an (3) leicht reparieren:
        „Also leben Menschen nur deshalb, weil (oder vllt. besser: sofern) sie durch ihr Handeln dem eigenen Leben dienen.“
        Ob sie dies sollten, ist dabei egal, aber wenn sie wollen, können sie nicht anders.

        Der Falschheit von (1) würde ich in der angegebenen Formulierung ebenfalls zustimmen, da Lebewesen sich nicht selbst hervorbringen. Die Initiative eines Lebens liegt immer bei den Eltern-Individuen. Ersetzen wir „leben“ aber durch „überleben“ oder „weiter leben“ und verstehen unter „Handeln“ zudem sätmliche Aktivitäten bzw. Verhaltensweisen des Körpers (also nicht nur die absichtlichen, womit Pflanzen, Einzeller und sogar Viren auch mit drin sind), so müsste es aber wieder stimmen?

        Beim gemeinnützigen Engagement habe ich zugegeben überspitzt. Es geht dabei nicht darum, sich mehr oder weniger harmlos in seinen Nebenstunden unterstützend um die Belange anderer mit zu kümmern, dagegen habe ich gar nichts; Aber sein ganzes Leben darauf ausrichten, sein Gewissen an die Frage hängen, ob jede einzelne Handlung noch dem Wohle irgendeines anderen diene, sich „Penny für Penny das Recht auf das eigene Leben von den Armen erkaufen“ (wieder Rand, Quellstelle vergessen)?
        Der hierauf von mir vermutete Einwand lautet, dass so doch niemand ernsthaft ticke – nunja, ich die ersten drei Monate meiner wirtschaftlichen Eigenständigkeit schon, aber im Prinzip stimmt dieser Einwand: Altruismus in Reinform ist auf Dauer gar nicht möglich. Entweder muss er Kompromisse mit der Gegenseite eingehen, oder seine Akteure kaputt spielen. Hingegen aufgeklärte Selfishness konsequent durchführbar ist, ohne sich den Ast abzusägen, auf dem sie selber sitzt.

        1. Die Fußnote rettet (1) leider auch nicht. Rand ist entschuldigt, da sie das 1961 noch nicht wissen konnte, aber seit den Arbeiten von W. D. Hamilton und deren Popularisierung durch R. Dawkins sieht man es in der Biologie so, dass – salopp gesagt – das ultimative Ziel der Handlungen eines Organismus nicht die Erhaltung des eigenen Lebens ist, sondern die möglichst weite Verbreitung von Kopien der eigenen Gene. Das setzt zwar meistens, aber eben nicht immer, die Erhaltung des eigenen Lebens voraus. Außerdem inkludiert das kollektivistisch-altruistische Verhaltensweisen wie die Bildung von sozialen Staaten oder die Aufopferung für andere bei manchen Spezies. Daraus könnte man ebenfalls einen naturalistischen Fehlschluss konstruieren, aber der würde Rand gar nicht gefallen…

          Die Reparatur des Syllogismus klappt auch nicht. Natürlich können nur lebende Menschen Werte haben, und insofern ist Leben eine notwendige Voraussetzung dafür, dass man überhaupt Werte hat. Daraus folgt aber lediglich, dass, wenn man überhaupt Werte haben will, die Erhaltung des eigenen Lebens ein solcher Wert sein sollte, und nicht mehr. Dies ist aber ohne gravierende Folgen, da Menschen im Regelfall ohnehin aus evolutionären Gründen einen angeborenen Selbsterhaltungstrieb besitzen.

          (Genau genommen folgt nicht einmal das zwingend. Auch der Kamikaze-Pilot hat Werte, solange er am Leben ist.)

          Man muss sich klar machen, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen der bloßen Erhaltung des eigenen Lebens und dem rationalen Eigeninteresse. Letzteres klassifiziert ja Handlungen als unmoralisch, die nicht primär dem eigenen Leben dienen. Der hochbezahlte Chirurg, der seinen Job aufgibt und sich den „Ärzten ohne Grenzen“ anschließt, um in Afghanistan Landminenopfer zu operieren, handelt laut Objektivismus unmoralisch, da dies nicht in seinem rationalen Eigeninteresse liegt. Nichtsdestotrotz bleibt der Mann aber am Leben und erfüllt so problemlos die notwendige Bedingung dafür, überhaupt Werte zu besitzen. Er handelt altruistisch, lebt aber trotzdem weiter. Die Existenz dieses Mannes widerlegt also die Behauptung, das rationale Eigeninteresse sei eine zwingende Folge seines am-Leben-seins, auf der dieses Scheinargument basiert.

          Andreas‘ alter Artikel dazu bietet hier auch nichts Neues. Wie Hume bemerkte: Plötzlich wird aus einem Sein ein Sollen. Bei Andreas ist das diese Stelle:

          Das ultimative Ziel eines jeden Lebewesens ist sein eigenes Leben. Für den Menschen gilt also: Das eigene Leben eines individuellen Menschen ist sein objektiver Moralstandard.

          Wenn man hier bei der Prämisse ein Auge zudrückt und sie akzeptiert, dann ist doch das „also“ hier deplatziert.

          Andreas hat (noch) einen Essay zum Sein-Sollen Problem angekündigt. Ich bin gespannt, aber pessimistisch. Ich halte „Humes Gesetz“ wirklich für ein Gesetz. Ein Schluss vom Sein auf das Sollen scheint mir aus prinzipiellen Gründen undenkbar.

          1. Dass die Ethik nicht auf der Realität aufbauen soll ist doch blanker Mystizismus. Wieso ausgerechnet die Ethik? Alles andere soll realitätsbasiert sein, aber bei der Ethik dürfen alle rumspinnen, wie sie wollen, oder was soll daraus folgen?

            Was der biologische Zweck des Lebens anderer Tiere ist, erscheint mir für die Argumentation gleichgültig. Der Mensch muss die freie Entscheidung treffen, dass er leben möchte, weil er nicht instinktiv überlebt. Ein Mensch kann sich nicht einfach zurücklehnen und sich auf seine Instinkte verlassen. Er muss auf eine bestimmte Weise handeln, um als das zu existieren, was er ist, das rationale Tier.

            „Der angemessene Ethikmaßstab ist: Das Überleben des Menschen als Mensch – das heißt das, was die menschliche Natur für sein Überleben als rationales Lebewesen erfordert (nicht sein vorrübergehendes physisches Überleben als geistloses Tier).“ (Philosophiebereich: Ethik)

            da Menschen im Regelfall ohnehin aus evolutionären Gründen einen angeborenen Selbsterhaltungstrieb besitzen.

            Wir werden nicht durch einen Trieb am Leben erhalten, sondern durch bewusste Entscheidungen. Im Mittelalter sind die Menschen durchschnittlich etwa 30 Jahre alt geworden. Islamisten sprengen sich in die Luft. Jugendliche begehen Selbstmord, weil ihr Tamagotchi gestorben ist. Viele Stammeskulturen haben Mitglieder ihren Göttern geopfert. Der höchste Tag im Leben bestimmter Kulte war der glorreiche Tag, wenn man sich selbst den Göttern opfern durfte. Germanische Stammesfürsten haben sich selbst im Moor versenkt. Da ist kein „Trieb“. Da ist die Macht der Ideen und die Macht bewusster Entscheidungen.

            Rand hat zudem nicht postuliert, dass es ohne Leben keine Werte gibt, sondern dass die Werte aus dem Leben abgeleitet werden sollten und dass sie aus dem Leben folgen.

            Er handelt altruistisch, lebt aber trotzdem weiter.

            Rand war sich durchaus bewusst, dass ihre kommunistischen Gegenspieler lebendig sind.

            Humes „Gesetz“ war eine Randnotiz von Hume, aus der von Subjektivisten unglaublich viel gemacht wurde. Klar ist es bestimmten Menschen sehr willkommen, wenn es keine objektive Grundlage der Moral gibt und sie ihren Launen und Spinnereien folgen können.

          2. – Ob Ethik auf der Realität aufbauen soll, kann, darf oder muss, weiß ich nicht. Mir ist dieses „auf der Realität aufbauen“ zu schwammig, ich weiß nicht, was das genau heißen soll.

            – Das Argument über den Zweck des Lebens scheint mir auch irrelevant. Aber Rand und sba haben es benutzt.

            – Bewusste Entscheidungen sind neben instinktiven Reaktionen und erlernten Verhaltensweisen im Selbsterhaltungstrieb inkludiert. Ich beharre aber nicht auf dem Wort, es ist ohnehin kein Fachbegriff. Der Punkt ist, dass der moralische Imperativ, das eigene Leben zu erhalten, nicht besonders kontrovers ist, da es ohnehin (fast) jeder Mensch tut, auch ohne intensiv und auf einer ethischen Basis darüber nachgedacht zu haben.

            – Viele wichtige und richtige Ideen haben ihren Ursprung in einer Randnotiz. Wer von Humes Gesetz profitiert, ist eine interessante Frage, aber für die gegenständliche Diskussion (ob Humes Gesetz wahr oder falsch ist) irrelevant. Was das betrifft, warte ich lieber auf deinen angekündigten Spezialbeitrag.

          3. Es gibt keinen moralischen Imperativ im Objektivismus, das ist Kantianismus. Wir sagen nur, dass das Leben die einzige objektive Grundlage für eine Ethik ist. Die Ethik befasst sich damit, wie der Mensch handeln soll und wenn er nicht leben will, braucht er keine Ethik. Einverstanden bis dahin?

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